Utopia dekonstruiert oder doch ein dystopisch anmutender Familienroman?

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Es fällt mir ausgesprochen schwer, eine Rezension über Theresia Enzensbergers Roman „Auf See“ zu schreiben.

Die Handlung ist in der näheren Zukunft angesiedelt. Im Mittelpunkt steht zunächst das Leben auf der „Seestatt Vineta“, einer künstlich angelegten schwimmenden „Wohn- und Forschungsinsel“ mitten in der Ostsee. Sie wurde ursprünglich als Zufluchtsort errichtet, weil die Welt auf dem Festland durch klimatische Veränderungen und soziale Unruhen zu zerbrechen droht(e). Enzensberger greift in ihrem Roman die Idee des „Seasteading“ auf - Siedlungen, die quasi im rechts- und steuerfreien Raum in internationalen Gewässern entstehen. Auf diesen Inseln, die sich der Kontrolle durch Staaten entziehen, sind die unterschiedlichsten Modelle menschlichen Zusammenlebens möglich, niemand ist Rechenschaft schuldig und auch Forschende können frei von sämtlichen Regularien arbeiten.

Die 17-jährige Yada ist die Tochter des Seestattgründers Vineta. Sie lebt dort völlig isoliert von der äußeren Welt. Ihr Tagesablauf ist streng getaktet - die Beschäftigungen legt der Vater fest, Kontakt hat sie fast ausschließlich zu ihm und ihren Lehrern. Die ursprüngliche Idee eines autarken Seasteading-Projekts wurde aber auch nach vielen Jahren nicht umgesetzt. Noch immer werden zahlreiche Lebensmittel außerhalb gekauft, die Nachhaltigkeitsziele scheinen keine Priorität zu haben, immer wieder verlassen Wissenschaftler enttäuscht das Projekt. Über Yada hängt drohend eine möglicherweise durch ihre Mutter vererbte Krankheit. Medikamente sollen das Ausbrechen verhindern. Irgendwann kommen Yada Zweifel am Weltbild, das ihr vermittelt wurde. Warum wurde die Seestatt wirklich errichtet? Kann sie ihrem Vater vertrauen? Sie merkt, dass es viele Ungereimtheiten gibt und beginnt heimlich zu recherchieren.

Ein weiterer Erzählstrang ist auf dem Festland angesiedelt. Wir folgen Helena durch ihren Alltag. Sie ist Künstlerin, Sektenführerin und Orakel, aber in erster Linie plan-, halt- und antriebslos. Ganz zufällig wurde sie durch die Macht der sozialen Medien sowie durch den Einfluss zahlreicher Influencer:innen zum Orakel und zur Sektenführerin. Die Rollen sind ihr lästig, niemand will glauben, dass nur ein Missverständnis vorliegt, irgendwann gibt sie auf, sich zu erklären und ihren Anhänger:innen das, was diese zu erwarten scheinen. Das einzige, was Helena zu faszinieren scheint, ist ihr Archiv. Sie sammelt dort wenig bekannte historische Fakten über Visionäre, Utopisten, Sektenführer, Hochstapler und Betrüger, die ihren eigenen Staat gründen wollten oder vorgaben dies zu tun. Die Archivaufzeichnungen fand ich sehr spannend, weil sie unglaubliche, wenig bekannte Geschichten erzählen, die tatsächlich historisch belegt sind.

Insgesamt gefällt mir die Idee hinter diesem Roman und auch die Figur der Helena, bei der die öffentliche Wahrnehmung überhaupt nicht mit dem echten Menschen in Einklang steht, sehr gut. Enzensberger thematisiert Ausbeutung, alternative Wahrheiten, unterschiedliche Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens, entlarvt Projekte, die nur oberflächlich gesehen im Dienste der Menschheit stehen, als egozentrische Vorhaben.

Auf See liest sich gut, ist thematisch interessant und trotzdem merkwürdig unspektakulär. Ich empfand eine große Distanz zu den Figuren und der Erzählweise. Nach der Lektüre bleibt bei mir trotz vieler toller Ideen ein Gefühl der Unzufriedenheit zurück, ohne dass ich so genau festmachen könnte, woran das eigentlich liegt.