Utopie, Dystopie oder Gesellschaftskritik

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missmarie Avatar

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"Sie sagte nicht, was sie dachte, dass nämlich die Firmen, denen die Theater und Ausstellungsräume gehörten, genau diese Art von entleerter Kritik wollten, gerade weil sie jede politische Positionierung vermied."

Private Theater, in denen gesellschaftskritische Stücke nur deswegen aufgeführt werden, weil sie zu entpolitisierter "Toll, dass sowas aus gezeigt wird"-Kritik wird. Wirbel um eine Frau, die per Social Media Prophezeiungen verbreitet, die eigentlich als Witz gemeint sind, und so unfreiwillig zum Orakel wird. Investoren, die gläserne Bürotürme und Businesslunch-Restaurants finanzieren, während die, die sich keinen Wohnraum mehr leisten können, im Berliner Tiergarten die Zelte aufschlagen. Eine Dystopie der wirtschaftsliberalen Future Simple - wie die Zukunft bei Enzensberger heißt? Oder doch ein sehr fein gezeichnetes Bild unserer Gegenwart - einen kleinen Hauch überzeichnet vielleicht?

Die Grenzen zwischen aktueller Gesellschaftskritik und Science Fiction Roman verschwimmen in Theresa Enzensberges "Auf See", das zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises zu finden ist. Geschickt zeichnet sie das Bild einer nicht all zu fernen Zukunft, in der Europa laut Yadas Vater zerstört wurde. Eine in Teilen postapokalyptische Welt, die für andere ein Zuhause darstellt. Dabei verknüpft sie zunehmend in den "Archiv-Kapiteln", die immer wieder im Buch auftauchen, Recherchen über nicht-fiktionale Aufschneider und Betrüger mit der Romanhandlung. Die fiktionalen Geschehnisse sind nur immer einen Denkschritt von der Realität entfernt und so passierte es öfter, dass ich Freunden von der future simple erzählt und ein "Das ist doch jetzt schon so" als Antwort erhielt. Die Metallenen verknüpft die Autorin hier also sehr gelungen.

Obwohl der Roman damit durchaus als experimentell gelten kann, zeichnet er sich durch eine wahnsinnig gute Zugängigkeit aus. Die Geschichten der Künstlerin Helena und von Yada, das Mädchen, das in der Seestadt - einem Utopieprojekt - aufwächst, lesen sich auch ohne Realitätsbezüge äußerst spannend. Ob die Seestadt als Gegenentwurf taugt und ob sie wirklich der utopische Ort sein bzw. werden kann, als der sie entworfen wird, muss der Leser entscheide.

Besonders gut gefallen hat mir, dass in diesem Roman (fast) nur Frauen zu Erzählerinnen und Handelnden werden. Gerade Yada wächst dem Leser als junges, selbstbewusstes Mädchen schnell ans Herz. Dieser feministische Aspekt zeigt sich auch in der Sprache: Subtil wird hier immer wieder von Ärztinnen, Politikerinnen und Wissenschaftlerinnen gesprochen.

"Auf See" zählt zu den Romanen, die durch ihre erzählerische Kraft genauso wie durch ihre kluge Machart überzeugen. Im Nachhinein zeigen sich noch so viele Metallenen und Anspielungen, dass man immer wieder etwas Neues darin finden kann. Eine große Leseempfehlung!