Zukunftsmusik

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
bjoernandbooks Avatar

Von

Die Tage gleichen einander. Jeder einzelne. Yada steht kurz vor ihrem 18. Geburtstag und lebt seit vielen Jahren auf einer künstlichen schwimmenden Insel in der Ostsee, genannt „Die Seestatt“ oder „Vineta“ und errichtet von ihrem Vater. Ursprünglich war die Seestatt als Zufluchtsort geplant vor der am Horizont drohenden sozialen Katastrophe. Vollkommen isoliert von der vermeintlich zerstörten Außenwelt hat Yada nur zu den anderen Bewohnern der schwimmenden Insel Kontakt, zu ihren Lehrern und wenigen Vertrauten ihres Vaters. Als dieser von einer seiner Reisen, die er zur Heilung seines eigenen prekären Gesundheitszustands unternimmt, Rebecca mitbringt, gerät Yadas Weltbild ins Wanken, ihr emotionales wie auch das sorgsam skizzierte faktische. Kann sie ihrem Vater vertrauen? Will er wirklich nur das Beste für sie? Will er sie schützen, damit sie nicht wie einstmals ihre Mutter vor einer geistigen Krankheit, wahrscheinlich vererbbar, kapitulieren muss? Oder stecken ganz andere Pläne hinter der Seestatt und den immer weniger nachvollziehbar erscheinenden Handlungen ihres Vaters?

„Jeder Tag fühlte sich an wie ein Ausbruch aus der Theorie, die immer nur die Ausweglosigkeit der Systeme beschwor, ohne je eine Lösung zu präsentieren“ (S. 238)

In „Auf See“ konfrontiert uns Theresia Enzensberger mit einem Szenario einer gar nicht einmal so weit in der Zukunft liegenden Realität, einer U- oder Dystopie je nach Perspektive. Das Aufeinandertreffen von alternativen Wahrheiten, Isolation als getarnte Vorsichtsmaßnahme, der Clash von libertärem Technologie-Wahn und der Rückbesinnung auf Gemeinschaft – all das verhandelt Enzensberger in nüchternem Ton. Gelegentlich erscheinen die Hürden, die sie zwischen ihren Figuren und ihren Leser*innen auftürmt, jedoch etwas übermächtig...

Gleichzeitig mutet gerade diese Distanz, die den Ton des wissenschaftshistorisch geprägten Familienromans bestimmt, dann auch fast schon wieder haltversprechend an, eine Distanz, die einerseits aufzeigt, dass Vertrauen in dieser neuen Realität ein seltenes Gut ist, die aber andererseits auch Hoffnung verspricht, wenn mensch spürt, dass mensch sein*ihr Zuhause gefunden hat. Protagonistin Yada ist komplett lost in ihren Zugehörigkeiten: Alleine schlägt sie sich durch ihren Alltag auf der Seestatt, losgelöst von moralischen Kompassen oder gesellschaftlichen Handlungsanweisungen. Sie ahnt, sie spürt vielmehr, dass hier etwas nicht stimmt, dass die von ihrem Vater wie am Skizzentisch entworfene Wirklichkeit auf der Insel nicht mit wahrhaftigem Leben angefüllt ist. Der parallel dazu erzählte Handlungsstrang um Helena, eine als Orakel gefeierte Anführerin einer künstlich als Experiment aufgebauten Sekte, betrachtet diese Artifizialität im Miteinander von einer anderen Perspektive, der der Wissenden. Hart kontrastiert Enzensberger auch mit ihren Einschüben von historisch nahezu unbekannten Fakten aus der Geschichte wahnhaft-verschrobener Territorialübernahmen den Verlust von Realitätswahrnehmungen mit den Gefühlen von Heimat, Familie und Menschlichkeit – denn dass es da eine Verbindung zwischen Yada und Helena zu geben scheint, wird schnell deutlich. Und dennoch bleibt da immer die Distanz, der Abstand selbst zu den Figuren, die Gutes wollen, die sich um eine Authentizität in einer Zeit auflösender sozialer Umstände bemühen.

Theresia Enzensbergers „Auf See“ zeigt mit erschreckender Genauigkeit, wozu Menschen im Angesicht der nahen Katastrophe in der Lage zu sein scheinen, wie sie den Kopf und das Gefühl verlieren, sich nahezu manisch zu Theorien versteigen, die jeglichem Verstandesdenken widersprechen. Ein Porträt einer dystopischen Zukunft, das aber auch Zuversicht spendet, zeigt es doch auf, mit welchen Mitteln wir uns dem sozialen Abgrund entgegenstellen können. Hervorragend recherchiert, stilistisch interessant verpackt, aber dennoch ein wenig entrückt, ein Spaziergang eher auf als unter der Haut der Leser*innen, vor allem durch die teilweise etwas blass anmutenden Figuren.