Stimmenjäger

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Mit Auris startet Vincent Kliesch eine vielversprechende Thrillerreihe, die auf einer Idee von Bestsellerautor Sebastian Fitzek basiert. Das Besondere: Der Ermittler dieser Geschichte ist kein gewöhnlicher Polizist, sondern ein akustischer Profiler. Matthias Hegel – genannt Auris, das lateinische Wort für Ohr – besitzt die erstaunliche Fähigkeit, anhand von Stimmen Herkunft, Aussehen, psychischen Zustand und sogar Lügen zu erkennen. Diese forensische Phonetik bildet das zentrale, originelle Element des Romans und hebt ihn von gängigen Thrillern ab.

Doch gleich zu Beginn stellt Kliesch seine Hauptfigur in Frage. Hegel, sonst als zuverlässiger Wahrheitsfinder bekannt, gesteht plötzlich einen Mord an einer Obdachlosen – und landet im Gefängnis. Für Jula Ansorge, eine junge und engagierte True-Crime-Podcasterin, wirkt dieses Geständnis alles andere als plausibel. Jula, die selbst eine traumatische Vergangenheit verarbeitet, beginnt an einem möglichen Justizirrtum zu zweifeln. Getrieben von ihrer Intuition und ihrem Wunsch, die Wahrheit ans Licht zu bringen, beginnt sie, im Fall Hegel zu recherchieren. Dabei gerät sie nicht nur selbst in Gefahr, sondern bringt auch eine ihr nahestehende Person in Lebensgefahr.

Was folgt, ist ein rasanter Thriller mit zahlreichen Wendungen, überraschenden Enthüllungen und einem hohen Tempo. Kliesch versteht es, Spannung kontinuierlich aufzubauen und den Leser von Kapitel zu Kapitel zu treiben. Die Kapitel sind kurz, meist mit kleinen Cliffhangern versehen, was zu einem echten Pageturner-Effekt führt. Besonders gelungen ist die kontrastreiche Figurenkonstellation: Hegel, distanziert, analytisch, undurchschaubar – fast schon übermenschlich in seinen Fähigkeiten – trifft auf die impulsive, hartnäckige und emotional gesteuerte Jula. Zwischen beiden entwickelt sich ein vielschichtiges Spiel aus Vertrauen, Manipulation und Misstrauen.

Die Dialoge zwischen Jula und Hegel gehören zu den Highlights des Romans. Sie sind scharf, pointiert und voller Spannung – nicht nur inhaltlich, sondern auch auf sprachlicher Ebene. Die verbalen Duelle der beiden sorgen für eine lebendige Dynamik und lassen auch tiefere Themen wie Wahrheit, Schuld und Manipulation anklingen. Dabei gelingt es Kliesch, auch komplexe Sachverhalte aus der Phonetik verständlich und spannend zu vermitteln, ohne den Leser mit Fachwissen zu überfrachten.

Zugleich muss man festhalten: Der Plot ist in vielen Momenten alles andere als realistisch. Hegels Fähigkeiten wirken teilweise überspitzt, manche Wendungen sind stark konstruiert und erinnern eher an ein Hollywood-Drehbuch als an authentische Kriminalermittlung. Wer sich an solchen Übertreibungen stört oder einen bodenständigen Krimi erwartet, wird hier möglicherweise enttäuscht. Doch Auris will genau das: unterhalten, überraschen und emotional fesseln – nicht dokumentieren. Und das gelingt dem Roman hervorragend.

Spannend ist auch die Frage, wie viel von Sebastian Fitzeks Handschrift in Auris steckt. Die Idee stammt zwar von ihm, umgesetzt hat sie aber Vincent Kliesch. Wer Fitzeks Werke kennt, wird einige Parallelen erkennen: psychologische Tiefe, das Spiel mit dem Leser, das Ausloten von Wahnsinn und Wahrheit. Allerdings erreicht Kliesch nicht ganz die psychologische Raffinesse und das verstörende Kopfkino eines Fitzek-Thrillers. Dafür punktet Auris mit klarer Sprache, effektiven Spannungsbögen und einer Struktur, die sofort mitreißt.

Besonders als Serienauftakt funktioniert der Roman gut. Viele Fragen bleiben offen, vor allem rund um Hegels Vergangenheit und seine wahren Motive. Auch Julas Geschichte bietet Potenzial für weitere Entwicklungen. Dass der erste Band nicht alle Handlungsstränge abschließt, ist durchaus gewollt – es weckt die Neugier auf Fortsetzungen und vertieft das Mysterium um Hegel. Der Showdown zum Schluss bringt eine unerwartete Wende, die neugierig macht, wie es weitergeht.

Fazit: Auris ist ein rasanter, spannungsgeladener Thriller mit einem außergewöhnlichen Ermittler und einer starken weiblichen Hauptfigur. Der Roman überzeugt durch hohes Tempo, originelle Ansätze und fesselnde Wendungen, auch wenn er sich zugunsten der Spannung einige Freiheiten bei der Logik erlaubt. Wer actionreiche Thriller mit psychologischer Komponente liebt und kein Problem mit einem Hauch Übertreibung hat, wird hier bestens unterhalten. Kein typischer Fitzek – aber eine starke, eigenständige Geschichte, die Lust auf mehr macht.