Eher Manifest als Roman

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avataraang Avatar

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Vorab ist zu sagen, dass es mir schwer fällt, Alba de Céspedes Roman "Aus ihrer Sicht" angemessen zu bewerten. Ich sehe das Buch weniger als Geschichte mit einem klaren Handlungsbogen (obwohl dieser zweifelsohne vorhanden ist) als vielmehr als Zeitdokument, Diskussionsgrundlage, wenn nicht als Manifest. Mir fallen wenige Werke ein, die ein ähnliches Potenzial haben, abhängig von Geschlecht und Lebenslage der Lesenden zu polarisieren. Die Sprache ist klar bis teils poetisch. Der Roman liest sich stets flüssig, wenn ich auch nicht behaupten kann, ihn in einem Rutsch durchgelesen zu haben. Die Hauptfigur der Alessandra legt mit dem Werk ihr (fiktives) Geständnis ab, daher erfolgt die Schilderung aus der Ich-Perspektive. Das Geständnis verstehe ich zwar nicht als Rechtfertigung der Tat, die Alessandra verübte und die ich an dieser Stelle nicht vorweg nehmen will, jedoch ebenso nicht als objektive Nacherzählung, schließlich handelt es sich um ihre Lebensgeschichte. Diese ist eben "aus ihrer Sicht" verfasst, daher ist Alessandra als unzuverlässige Erzählerin einzuschätzen. Ich mochte, wie die Autorin mit diesem Motiv spielt und ihre Hauptfigur mehrmals reflektieren lässt, dass ihre Nacherzählung subjektiv verfärbt ist. Alessandra ist eine sehr interessante, weder übermäßig sympathische noch unsympathische Figur. Ich verstand sie als Sinnbild sicher zahlreicher Schicksale und optimale Projektionsfläche eigener Empfindungen. Daher bin ich überrascht, ihr nicht schon eher in etwaigen literarischen Analysen oder Vergleichen begegnet zu sein. In ihrem Namen rechnet de Céspedes mit der Institution der Ehe ab. Würde man ihr unterstellen, Männer im Allgemeinen zu verunglimpfen oder gar zu hassen, wäre das allzu kurz gegriffen. Im Gegenteil - auch die Frauenfiguren werden (wenn auch feinsinniger) mit Makeln versehen. Sogar Alessandras Mutter Eleonora - welche die Hauptfigur stets verehrte - tritt ambivalent auf. Hierin liegt die große Stärke in de Céspedes Werk, denn ich hatte stets den Eindruck, glaubwürdige Charaktere geschildert zu bekommen. Nachdenklich stimmten mich beim Lesen die stark patriarchalen Strukturen, die durch die Autorin in aller Deutlichkeit angeprangert werden. Da der Roman bereits 1949 entstand, sind ebendiese gesellschaftlichen Umstände in der Zeit zu verorten, in welcher die Handlung spielt (im Wesentlichen das Italien der 40er Jahre). Allerdings postuliert de Céspedes infolge der Handlung, dass das Gefüge der Ehe als solches unabhängig von äußeren Umständen die immer gleiche (für die Frauen zerstörerische) Dynamik entwickelt. Das kann man als nihilistisch auffassen und ich bin nicht der Meinung, dass dies in unserer heutigen Gesellschaft so pauschalisiert werden kann. Sicher fallen aber jedem Beispiele ein, wo man diese ungesunden Beziehungen nach wie vor beobachtet. Das macht den Roman zugleich zu einem zeitlosen Zeitdokument. Wenn man dem Werk m. E. n. etwas vorwerfen kann, dann, dass dem Mittelteil etwas Straffung gut getan hätte, dafür ziehe symbolisch einen Stern ab. Zur Ordnung meiner Gedanken war das Nachwort von Barbara Vinken sehr hilfreich. Von mir gibt es eine Leseempfehlung.