Eine feministische Sicht - oder doch nicht?

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
si_liest Avatar

Von

Alessandra wächst in den 30er Jahren in Rom auf. Die Mutter, eine feinsinnige, sensible Frau, leidet unter dem patriarchalen Machtgefüge der Ehe und der Lieblosigkeit ihres Ehemannes. Frauen, so scheint es, sind einzig dazu da, dem Ehemann den Rücken frei zu halten, den Haushalt zu organisieren und die Kinder zu erziehen. Als Alessandras Mutter aus diesem Gefüge ausbrechen will, kommt es zu einem tragischen Ereignis und Alessandra wird zur Großmutter in die Abruzzen geschickt. Dort gelingt es ihr, ihre eigenen Interessen durchzusetzen: Sie darf lernen und das Examen machen. Zurück in Rom fällt muss sie jedoch die Rolle der Mutter einnehmen, da der Vater mittlerweile erblindet ist. Sie reibt sich auf zwischen Haushalt, Universität und Arbeit in einem Büro. Als sie den Philosophie-Dozenten Francesco, der im Widerstand aktiv ist, kennenlernt, scheinen sich alle ihre Träume und Hoffnungen zu erfüllen – doch schafft sie es, die alten Rollenvorstellungen hinter sich zu lassen?
Die Geschichte wird in der Rückschau aus Alessandras – „aus ihrer“ – Sicht erzählt. Die ganze Handlung und die Darlegung der Strukturen und Gefühle laufen darauf hinaus, zu ergründen, wie es zum zentralen Ereignis, welches am Ende des Romans stattfindet, kommen konnte. Die Missstände des patriarchalen Ehegefüges und die Stellung der Frau in der damaligen Zeit werden dabei sehr genau analysiert, fast schon seziert. Was mir gut gefallen hat, ist, dass im Roman unterschiedliche Frauen- und Männer-Persönlichkeiten dargestellt werden, was nochmal die typischen Gender-Klischees hervorhebt. So gibt es die männlich erscheinende Denise, die im Widerstand aktiv ist, Konkubinen wie Alessandras Freundin Fulvia, die matriarchalische Großmutter, die Mutter als feinsinnige Künstlerin, der Vater als Patriarch, Hervey als Liebhaber, dem quasi alle Männlichkeit abgeschrieben wird. Interessant fand ich auch, wie sich das patriarchale Gefüge letztendlich nicht auflöst, sondern trotz scheinbarer Gleichberechtigung beider Ehepartner bezüglich Arbeit und Bildung bestehen bleibt. Francescos Rücken wird hierbei sinnbildlich als Mauer bezeichnet, gegen die sich nicht ankommen lässt.
Was mich jedoch beim Lesen gestört hat, sind die zum Teil beträchtlichen Längen und die Redundanzen. Alessandras absolute Hingabe und ihre Fokussierung auf die Liebe, ihr schmachtendes Sehnen und ihre fehlgeleitete Leidenschaft wurden für meinen Geschmack zu oft erwähnt und zu sehr ausgeführt. Hier hätten dem Roman ein paar Seiten weniger sicher gutgetan. Auch verkümmert der zentrale feministische Gedanke, der am Anfang noch vorhanden ist, im Laufe der Handlung. Zeigt Alessandra zu Beginn noch einen großen Kampfgeist, wehrt sie sich im Verlauf gegen das Konstrukt der Ehe nur noch in Gedanken und passt sich mehr und mehr an. Sie führt ihre Suche nach Selbstbestimmung nicht weiter, sie fügt sich in ihre Rolle. Selbst ihre Handlungen im Widerstand vollführt sie nicht aus politischer Motivation, sondern um Francesco zu gefallen, um ihm zu zeigen, dass sie ihm ebenbürtig ist.
Sicher ist dies ein feministischer Roman und ein wertvolles Zeitzeugnis (die Erstausgabe erschien 1949), der jedoch das „Genderkorsett“ (siehe das lesenswerte Nachwort von Barbara Vinken) nur andeutungsweise ankratzt.