Ein Kind ohne Vater? Schwere Entscheidung

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dj79 Avatar

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Henriette ist festgefahren, kommt nicht mehr klar, hat Mühe einen ganzen Tag zu überstehen, also einen Tag, den andere so leben mit Aufstehen, Frühstücken, Arbeiten, Einkaufen und so weiter. Manchmal schafft sie einen halben Tag, manchmal bleibt sie im Bett. Sie ist äußerst antriebslos. Dabei müsste Henriette eigentlich ihre Doktorarbeit zu Ende bringen. Nachdem sie in unserer an Möglichkeiten überfüllten Welt eine gravierende Entscheidung getroffen hat, kann sie sich gar keine Meinung mehr bilden. Henriette weiß einfach nicht mehr, was sie will.

Hannah Lühmann hat die Entscheidungsschwierigkeiten von jungen Leuten gut beobachtet und legt sie in ihrem Debüt dar. Es gibt Unmengen an attraktiven Produkten oder Aktivitäten, aber man kann längst nicht alles kaufen bzw. machen. Man muss sich festlegen und damit den weiteren Entscheidungsspielraum einschränken. Daraus ergeben sich Herausforderungen, die für Ältere, die möglicherweise noch den Hunger der Nachkriegszeit oder Mangelwirtschaft kennen gelernt haben, nicht nachvollziehbar sind.

Die Autorin legt ihren Themenschwerpunkt in die Hände von Henriette, die nach einer Abtreibung die Richtung für ihr Leben verloren hat. Henriette ist eine kluge Frau, allerdings ist sie auch ganz schön verkopft. Sie analysiert jeden Sachverhalt, zerlegt ihn bis auf Elementarebene, verliert sich in ihren Gedanken. Henriette malt sich zu jeder Entscheidung Worst-Case-Szenarien aus, so dass nichts mehr attraktiv erscheint. Ich hatte ein bisschen Schwierigkeiten, ihrer Gedankenwelt zu folgen. Zwar analysiere ich auch gern Situationen, wäge pro und contra ab, doch ich komme am Ende zu einem Ergebnis. Wenn ich mich geirrt habe, kann ich ebenfalls damit leben und meine Richtung auch wieder ändern. Bisher hatte ich aber auch das Glück, bei gravierenden Entscheidungen nach meinem Empfinden richtig gelegen zu haben.

Vom Charakter her näher war mir Paula, die ihre Freundin Henriette raus aus der Stadt, raus aus ihrem festgefahrenen Leben in eine Hütte im Wald lockt, damit sie ihren Kopf frei bekommt. Ihre lockere, entspannte Art mochte ich gern. Obwohl auch in ihrem Leben nicht alles perfekt ist, hat sie Methoden, um sich eine positive Haltung im Leben zu bewahren.

Der Schreibstil des Romans ist recht tragend, vielleicht ein bisschen langatmig. Aus meiner Sicht wird dies durch die zahlreichen Gedankengänge von Henriette verursacht. Obwohl mich das sonst etwas stört, passte es hier gut zur Grundstimmung im Roman. Gefallen hat mir zudem die Erzählweise in zwei Zeitsträngen. So erfahren wir ausschnittweise, was in Henriette‘s Vergangenheit passiert ist, wodurch im Verlauf ein Gesamtbild entsteht. Das Ende kommt dann recht überraschend daher. Es erscheint zwar logisch, wirkt mir persönlich allerdings zu abrupt. Aus meiner Sicht hätte es noch zwanzig bis fünfzig Seiten gebraucht, um es im tragenden Stil des Gesamtwerks auszuführen.

Insgesamt hat mir der Roman gut gefallen. Ich kann ihn durchaus empfehlen.