Verästelte Gedanken

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amara5 Avatar

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Henriette fühlt sich ihrem eigenen Leben nicht verbunden – die Mittdreißigerin hat schon immer mit Antriebsproblemen und Depressionen zu kämpfen, findet keinen für sie wünschenswerten Beruf und ihre Dissertation über die Kulturgeschichte des Werwolfes stagniert. Eine Abtreibung hat ihr derzeit den Rest gegeben und sie weiß nicht, wohin ihr Leben verlaufen soll, während für sie alle anderen ein geordnetes Dasein führen. Ihre enge Freundin Paula überredet sie für eine Auszeit in einer Hütte im Bayerischen Wald – umgeben von der Natur und mit Yogaübungen sowie Massagen möchte sie die Traumata und Wunden Henriettes heilen. Und die Umgebung in der Nähe von Wolfsgehegen sei prädestiniert für die Weiterführung ihrer Doktorarbeit. Die Tage ziehen neben Paulas gedanklichen Reflexionen mit alltäglichen Dingen wie Kochen, Reden, Wein trinken und Spazierengehen dahin, bis Paulas On-Off-Freund Tom auftaucht und das Zweierteam aufmischt.

„Der Moment direkt vor dem Augenaufschlag ist eine Millisekunde im Negativbereich des Bewusstseins vor dem Beginn der Zeitrechnung des Tages. Alles ist schon in ihm angelegt: die Trauer oder die Freude des Kommenden.“ S. 16

Feinfühling, zart, direkt und poetisch taucht der Leser tief in Henriettes verästelte Gedanken und Selbstzweifel ein – geplagt von Grübelattacken sucht sie einen Sinn im Leben, beobachtet dabei ihre Umgebung und ihren bisherigen Lebensweg präzise und kreist immer um sich selbst. Sie denkt schmerzhaft über die Abtreibung und dem dazugehörigen One-Night-Stand nach und ordnet immer wieder ihre Wahrnehmung und ihr Befinden ein. Dabei fließen Bezüge zur Werwolfs-Transformation und seine verschiedenen Ausführungen ein.

„Die Deutung, dass es sich bei der Verwandlung in einen Wolf um einen Ausbruch des Bösen im Menschen handelte, ist falsch. Ich glaube, der Werwolf rennt durch die Nacht wie ein Wahnsinniger, der leben will.“ S. 65

Hannah Lühmann zeigt ein bewegendes und ruhiges Bild einer depressiven jungen Frau, das sehr authentisch und intim zugleich ist. Dabei steht nicht eine ganze 30er-Generation, die sich voller Möglichkeiten in der Entscheidungsfindung verliert, sondern Henriette und ihre düsteren Gedankenspiralen im Vordergrund. Der Roman entwickelt sich leise, vieles ist zwischen den Zeilen zu finden. Am Ende wartet eine überraschende, fast schon traumartige Wendung, die Paula aus ihrer depressiven Phase holen wird. Dieses fällt etwas unrealistisch aus und die Werwolf-Bezüge sind insgesamt schwierig einzuordnen.

Mit einer dichten, sensiblen sowie klaren Sprache zeichnet Lühmann in „Auszeit“ präzise und eindringlich das Seelenleben einer jungen Frau nach, die vom eigenen Leben überfordert ist und einfach nur voller Energie leben möchte – bei der inhaltlichen Komposition ist noch Luft nach oben und es bleibt spannend, was von der Autorin in Zukunft erscheint.