Eine bemerkenswerte Frau

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solveig Avatar

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In Tschernowo ist die Natur merkwürdiger als andernorts: es gibt nur wenige Vögel, dafür mehr Katzen; die Spinnen sind zahlreicher und weben andere Netze, die Tomaten werden größer … Auch die wenigen alten Menschen, die dieses Dorf bewohnen, zeichnen sich durch Andersartigkeit aus; denn wer würde nach einem schrecklichen Reaktorunfall freiwillig in kontaminiertes Gebiet ziehen?
Dennoch ist Baba Dunja die erste, die entgegen allen Ratschlägen und Bitten in ihr geliebtes, vertrautes Heim in Tschernowo zurückkehrt. Sie ist nicht mehr jung und hat nichts zu verlieren. Ihre Kinder und die Enkelin, die sie noch nie gesehen hat, leben außerhalb der Gefahrenzone im Ausland.
So verbringt Baba Dunja, die bereits die Achtzig überschritten hat, ein Leben in Selbstbestimmung und im Einklang mit sich selbst, mit ihrer kleinen, losen Dorfgemeinschaft, aber auch mit den Geistern „ihrer“ Verstorbenen, zwischen Gegenwart und den Fragmenten ihrer Erinnerungen. Als jedoch eines Tages ein Mann mit seiner kleinen Tochter auftaucht, mit der Absicht, sich in dem todgeweihten Ort niederzulassen, wird alles anders.

Die Autorin rollt das Thema des tragischen Reaktorunglücks in Tschernobyl von der Seite überlebender Opfer her auf, die, vom Unfall überrascht, ihre Heimat verlassen müssen. Baba Dunja will sich nach ihrer erzwungenen Flucht aus Tschernowo nicht länger vorschreiben lassen, wo sie zu wohnen hat: „Das Gute am Altsein ist, dass man niemanden mehr um Erlaubnis zu fragen braucht …“ Sie besteht darauf, dort ihren Lebensabend zu verbringen, wo sie den größten Teil ihres Lebens zugebracht hat, selbst wenn dieser sterbende Ort von der Zivilisation fast abgeschnitten ist und die Bewohner auf viele Annehmlichkeiten verzichten müssen; selbst wenn der Preis dafür bedeutet, dass der Kontakt zu ihren Kindern auf gelegentliche Briefe beschränkt ist: an dem Ort, der ihre "letzte Liebe" ist. Wie ihre Nachbarn im Dorf will sie nur eines: unabhängig und in Ruhe ihr restliches Leben leben, sich an den kleinen Dingen des Alltags erfreuen und ihren Gedanken nachhängen. Ihre praktische, zupackende Art und ihr lebensbejahendes, optimistisches Wesen machen Baba Dunja zu einer Institution des Dorfes, unentbehrlich.

So ruhig und gleichmäßig wie Dunjas Leben in Tschernowo erzählt die Autorin ihre Geschichte. Die Sprache, die Alina Bronsky ihrer Titelheldin verleiht, klingt schlicht, manchmal gar naiv, aber stets stecken Erkenntnisse darin, die belegen, wie intensiv Baba Dunja über ihre Umwelt und sich selbst nachdenkt. Bei aller Abgeklärtheit verfügt die alte Frau zudem über eine gute Portion Humor und Ironie. Und es überzeugt den Leser zutiefst, wenn sie erklärt: „Ich habe alles gesehen und vor nichts mehr Angst. Der Tod kann kommen, aber bitte höflich.“