Eine sehr gelungene und traurige Geschichte

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wedma Avatar

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Baba Dunja ist eine starke Frau, die ihren eigenen Weg unbeirrt verfolgt, egal, wer und was zu ihren Entscheidungen sagt. Die Frau hat mich ganz schön beeindruckt. Ihre Geschichte fängt recht gemütlich an, aber je weiter, desto ernster werden die Probleme und Fragestellungen. Mit einer Prise Humor, aber doch recht ernst und mit einer bewundernswerten Gleichmut, erzählt sie ihr Leben vor dem Reaktorunglück 1986 und von der Zeit danach: von der Evakuierung und warum sie als Erste ins Dorf zurückkehrte. Eine ganze Epoche, in authentischen wie lebendigen Bildern, die die jungen Menschen von heute sich kaum vorstellen können, wird wieder lebendig.
Helle, fröhliche Bilder von Stadtkindern, die vor 86 über die langen Sommerferien zu ihren Großeltern ins Dorf kamen und dort nach Herzenslust herumtobten - Baba Dunja, als einzige medizinische Hilfskrankenschwester im Ort, musste sie mal auch versorgen, stehen im krassen Kontrast zu den Bildern, die sie von ihrer Enkelin Laura hat. Baba Dunja durfte das Mädchen nie kennenlernen, da Laura in Deutschland geboren wurde, dort nun lebt und noch nie zu Besuch gekommen ist. Auf den Fotos, die Tochter Irina Baba Dunja geschickt hat, guckt Laura immer ernst und lächelt nie.
Baba Dunja steht sinnbildlich für viele Frauen ihrer Generation. Sie haben ähnliche Schicksale: ein Leben voller Arbeit im Spagat zwischen dem Vollzeitjob, der Kindererziehung und der Arbeit im Haus und Garten, ggf. einem Mann wie ihr Egor, der eigene Interessen mehr schätzte als die der Familie. Und nun ist sie alt, lebt allein, pflegt ihren Gemüsegarten, da sie sich selbst versorgt, und spricht mit den Geistern der toten Dorfbewohner. Auch den Geist des toten Hans ihrer Nachbarin Marja sieht sie auf dem Zaun und nickt ihm im Vorbeigehen zu.
Baba Dunja ist eine weise Frau, bei der die Zeit eine ganz andere Dimension hat. Die Vergangenheit ist genauso lebendig wie Gegenwart. Bloß die Zukunft, die durch ihre Tochter Irina und die Enkelin Laura zum Ausdruck gebracht wurde, sieht zunächst sehr undurchsichtig aus. Erst ist Irina so geheimnisvoll wie immer, was ihr Familienleben angeht, als sie endlich zu Besuch, nicht ohne triftigen Grund, kommt. Doch dann… Da Baba Dunja ihre Enkelin noch nie persönlich kennengelernt hat, vermutet sie zunächst, dass es Laura gar nicht gibt und stellt prompt die Frage, was alles dann für einen Sinn hätte, wenn es Laura, also ihr Nachkommen in der Übernächsten Generation, gar nicht gibt? Gute Frage. Irina ist in der Fremde nicht besonders glücklich geworden: seit sieben Jahren geschieden, zur Tochter besteht nun auch keinen Kontakt mehr. Laura fördert schon länger ein gestörtes Verhalten zutage, Irina ist hilflos, sie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll und wie sie ihrer Tochter helfen könnte. Laura hat Baba Dunja einen Brief geschrieben, in einer Sprache, die Baba Dunja nicht versteht. Die Verbindung von der älteren zur jüngeren Generation scheint also gebrochen: Die Kontinuität, die die Zugehörigkeit zu einem Volk mit seiner Kultur und seiner Sprache da wäre, ist nicht mehr gegeben. Baba Dunja ist nicht besonders glücklich darüber, aber sie hat gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Sie will aber ihre Enkelin verstehen, sie will wissen, was sie stört, warum sie das macht, was sie macht.
Baba Dunja wurde für mich so lebendig, ihre Gedanken und Sorgen so nah, dass ich den Wunsch verspürt habe, sie zu besuchen, mit ihr Tee zu trinken, die wundersamen Spinnennetze in ihrem Haus, ihre Pflanzen draußen zu bewundern, vllt. etwas von den Beeren aus ihrem Garten zu kosten. Von Baba Dunjas Art und ihrer Lebensweisheit kann man ein gutes Stück abschneiden.
Das Reaktorunglück steht m.E. als Sinnbild für den Verfall des alten Systems. Die neue Ordnung, die die Kinder außer Landes gebracht und die Kindeskinder von ihrer Kultur und den Großeltern entfremdet hat, macht offensichtlich auch kaum glücklich, wenn man an Irina und Laura denkt. Was bedeutet das für die jungen Frauen, was bedeutet das für Baba Dunja? Die jüngere Generation hat ihre Wurzeln verloren und Baba Dunja ihre Zukunft.
Deshalb hat die Geschichte ein offenes Ende, da dieses Dilemma für Baba Dunjas Nachkommen nach wie vor ungelöst bleibt.

Ich habe die Ausgabe Hörbuch gewählt. Die Sprecherin Sophie Rois hat mit ihrer Darbietung Baba Dunjas Geschichte bereichert. Jede der Figuren und ihre Stimmungen konnte ich deutlich heraushören und nachvollziehen. Die Figuren wurden von der Autorin Alina Bronsky schon sehr gelungen und liebevoll gezeichnet. Von der Sprecherin Sophie Rois haben sie ihre Stimmen bekommen und wurden auf diese Weise für die Hörer lebendig. Kleine Kritik: Ich wünschte, Sophie Rois hätte es fertiggebracht, die Personennamen richtig auszusprechen. Es hätte schlicht besser, professioneller, respektvoller gegenüber den Figuren und dem Werk insgesamt geklungen.
Ansonsten bin ich sehr zufrieden mit dem Gesamtergebnis. Ich denke, dass ich Baba Dunjas letzte Liebe mal wieder hören werde, weil ich wieder etwas Zeit mit ihr und den Bewohnern von Tchernowo verbringen möchte.

Fazit: Eine sehr gelungene wie traurige Geschichte, die der heutigen Gesellschaft ein Spiegel vors Gesicht hält und zum Nachdenken anregt. Baba Dunja wird mir noch länger in Erinnerung bleiben. Ich fühle mich geehrt, dass ich sie kennenlernen durfte.