Radioaktive Idylle

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mazapán Avatar

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Todeszone, verbotene Zone, Sperrgebiet... und trotzdem Heimat.
Jahrzehnte nach der Nuklearkatastrophe in einem sowjetischen Dreiländereck kehrt eine Frau in ihre radioaktive Heimat, das kleine Dorf Tschernowo, zurück. Ihrem Beispiel folgen andere Menschen, und so entstand in einem Stück verstrahlter Erde eine, zumindest auf den ersten Blick, echte und liebenswerte Nachbarschaft.
Diese Trendsetterin ist das zielstrebige 80-jährige russische Enegiebündel Baba Dunja.

Die Bestsellerautorin -und eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen - Alina Bronsky hat eine Geschichte geschrieben, wie ich sie vorher noch nie gelesen habe. Sie hat es geschafft, dass ich ein verseuchtes Gebiet als idyllisch empfinde und das Leben der Menschen darin als erfüllend und harmonisch. Es war ein großes Vergnügen, über den Alltag Baba Dunjas in der sogenannten Todeszone zu lesen.
"Baba Dunjas letzte Liebe" ist eine Geschichte, die, auch wenn es sich unglaublich anhört - wer lässt sich freiwillig voll und ganz bestrahlen -, auf echten Tatsachen beruht: Heutzutage leben, illegal aber geduldet, nicht zu wenige Menschen in den evakuierten Gebieten rund um Tschernobyl. Warum sind sie zurückgekehrt? Haben sie keine Angst vor der Radioaktivität? Ist die Liebe zur Heimat so groß, dass sie sogar den Tod in Kauf nehmen? Laut verschiedener Berichte sind diese Gesetzwidrigen glückliche und ausgeglichene Menschen. Sie führen, so wie Baba Dunja, ein naturnahes Leben als Selbstversorger, stressfrei und fern von den Zwängen der modernen Welt.
Alina Bronsky belässt es in ihrer Erzählung aber nicht beim bloßen Beschreiben des bukolischen Daseins in der Todeszone. Unerwartete Wendungen brechen in die idyllische Lektüre ein und rütteln den Leser wach. Der Traum ist vorbei. Und was passiert, ist viel härter und greifbarer als die Bestrahlung, die komplett unsichtbar und unfühlbar ist. Plötzlich wird die Gefahr so real, dass man sich und den Romanfiguren die radioaktive und surreale Beschaulichkeit Tschernowos zurückwünscht.
Aber nicht nur dieses Paradox, das Alina Bronsky so gut gelungen ist, macht diese Geschichte so lesenswert. Auch die Romanfiguren selber beschäftigen den Leser und wecken mit ihren sehr menschlichen, guten und schlechten Eigenschaften gegensätzliche Gefühle in ihm. Baba Dunja ist eine resolute, konsequente, lebenserfahrene und warmherzige Frau, die ihrer russischen Seele alle Ehre macht, sich den Respekt ihrer Nachbarn verdient hat, und nach nur wenigen Seiten den des Lesers auch.
Auch wenn die Ereignisse sich hauptsächlich um Baba Dunja drehen, sind alle anderen Figuren genauso wichtig für die Handlung. Eine Bewohnerin Tschernowos hat meine ganze Sympathie gewonnen: Marja, Dunjas nächste Nachbarin, eine von Dunja emotional abhängige, depressive Frau mit einer Diva-ähnlichen Persönlichkeit.

Aus meiner Sicht liegt die Stärke dieses Romans nicht nur am heldenhaften Charakter Baba Dunjas, sondern auch an der Fähigkeit der Autorin, aus einer vergessenen, obendrein gefürchteten, regelrecht surrealistischen Landschaft, ein gelobtes Land für eine Handvoll Menschen, die dem Heimwehtod entfliehen wollen, zu machen. Trotz der endzeitlichen Atmosphäre spürt der Leser die Ruhe und - zugegebenermaßen etwas merkwürdige - Harmonie, die die Bewohner Tschernowos, vor allem Baba Dunja, meistens strahlen. Und diese Strahlung ist um einiges stärker als die radioaktive Strahlung, die sie umgibt. Das macht sie zu besonderen Charakteren. Sie sind beharrlich, zielgerichtet, haben viele Macken, und wecken in dem Leser den Wunsch, sie besser kennen zu wollen und alles über ihre Beweggründe zu erfahren.

Mit "Baba Dunjas letzte Liebe" offenbart Alina Bronsky eine ganz neue Welt, eine Lebensweise, die meine ganzen Vorstellungen übertrifft, für die ich auch viel Bewunderung empfinde, und die mich so sehr beschäftigt, dass sie nachts das Thema meiner Träume geworden ist.

Die Todeszone als Wahlheimat... wer hätte das gedacht.