Dem Leben neu begegnen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
amara5 Avatar

Von

Es gibt Traumata, die brauchen eine längere Anlaufzeit und besondere Menschen, um zu heilen. Freerunnerin und Cartoonistin Sydney Smith gibt sich schon jahrzehntelang unterbewusst die Schuld am Tod ihrer Mutter – und hat bisher den Unglücks- und Urlaubsort St. Ives gemieden. Auch der Vater und der Bruder leiden noch an dem Tod der geliebten Mutter. An ihrem 47. Geburtstag (an Geburtstagen möchte sie immer alleine sein, zum Leidwesen ihrer Lebensgefährtin Ruth) springt sie über ihren Schatten und über die Dächer der südenglischen Küstenstadt St. Ives – sie stellt sich dem Ort ihrer schmerzvollen Vergangenheit. Mit ihren waghalsigen Freerunning-Einlagen inklusive einem Absturz im Städtchen erweckt sie das Aufsehen der Bewohner und freundet sich mit einigen intensiv an.

Die britische Autorin und Psychotherapeutin Rachel Elliott lässt in ihrem humorvollen und subtilen Roman viele skurrile Figuren in chronologisch wechselnden Perspektiven miteinfließen – obwohl es um sehr schmerzvolle Themen wie Tod, Trauer und Loslassen geht, wird es durch die vielen bunten Charaktere, die dem Leser sofort ans Herz wachsen, nie traurig trotz melancholischer Grundstimmung. Jeder von ihnen hat sein Päckchen zu tragen, das die Autorin psychologisch tiefgründig sowie liebevoll auslotet und jedem seine Eigenwilligkeit eingesteht. Gerade dass die Menschen etwas abseits der gesellschaftlichen Norm leben, macht sie alle so seelenwärmend und sympathisch. Denn was ist schon normal?

Viele feinfühlige und originelle Sichtweisen wie die eines Hundes oder Notizblocks umkreisen die Protagonistin Sydney und bilden am Ende ein großes, verwobenes Ganzes, in dem unterschiedlichste Lebenslinien zusammengeführt werden.

Am Ende des berührenden, bildgewaltigen und multiperspektivischen Romans hat sich für Sydney und einige ihrer Wegbegleiter das Leben verändert – sie konnten Dämonen aus der Vergangenheit hinter sich lassen, indem sie erkannt haben, dass der Sinn des Lebens eine Gemeinschaft ist.

Äußerst liebenswert sind auch die witzigen und fantasievollen Überschriften wie „Es tut gut, im Dunkeln das Meer zu hören“ oder „Es könnte mich überfordern“ und die vor schönen Sprachbildern und Wortspielereien gesäumte Sprache der Autorin.
Ein authentisches und unkonventionelles Buch, das Mut und Hoffnung macht, sich so anzunehmen wie man ist, wieder Nähe zuzulassen und zu erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben. Hoffentlich findet es ein breites Publikum.

„Sie findet es bemerkenswert, dass jemand, mit dem man seit Jahren verbandelt ist, einem wie ein Fremder vorkommen kann, während ein Fremder, dem man erst vor wenigen Tagen kennengelernt hat, einem das Gefühl geben kann, in der Welt zu Hause und nicht nur ihm, sondern auch allen anderen näher zu sein.“ (S. 265)