Berührend

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Im Sommer 1962 verschwindet die kleine Ruthie spurlos vom Rand eines Beerenfeldes in Maine. Ihre Mi'kmaq-Familie ist aus Nova Scotia angereist, um als Saisonarbeiter:innen Blaubeeren zu pflücken. Joe, das nun jüngste Kind der Familie, macht sich Vorwürfe, weil er Ruthie zuletzt gesehen hat. Was folgt, ist eine Erzählung voller Schmerz und Schweigen: Die Familie wird nie ganz heilen, besonders Ruthies Bruder Joe bleibt ein Leben lang gezeichnet von der Ungewissheit und dem Verlust. Parallel dazu begleitet der Roman Norma in Maine. Sie wächst unter der kühlen Strenge ihres Vaters und der klammernden Liebe ihrer Mutter auf. Wiederkehrende Albträume und ein tiefes Gefühl von Unstimmigkeit und fehlender Zughörigkeit begleiten sie bis ins Erwachsenenalter.

Amanda Peters gelingt es auf sehr einfühlsame Weise, zwei Welten miteinander zu verweben: Die indigene Perspektive, geprägt von Armut, Rassismus und tiefer Familientrauer, und die privilegierte Welt Normas, in der die Wahrheit ebenso sorgfältig verdrängt wird wie das eigene Unbehagen. Die Sprache, gelungen übersetzt von Brigitte Jakobeit, ist schlicht, aber eindringlich.

Sowohl Joe als auch Norma wachsen nicht glücklich auf und leiden im Erwachsenenalter unter ihren Gefühlen von Unzulänglichkeit und Schuld, aber auch unter anderen Schicksalsschlägen wie Krankheit und Tod. Schmerz und Schweigen sind eigentlich immer präsent. Deshalb war die Lektüre für mich recht düster. Das wird zwar mit dem letzten Teil des Romans etwas ausgeglichen, dennoch ist dieser so auf Rührung ausgelegt, dass man Taschentücher bereit halten sollte. Wenn man das mag, ist es wirklich ein Roman, der zu Herzen geht – und einem das Herz auch mal schwer macht.