Die Macht der Bildung

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marialein Avatar

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Tara arbeitet für ihren Vater auf dem Schrottplatz, statt in die Schule zu gehen. Selbst schwerste Verletzungen werden nicht vom Arzt, sondern mit den Kräutern und Ölen von Taras Mutter behandelt. Was sich nach Zuständen irgendwo in der dritten Welt anhört, ist aber das Leben eines Mädchens in Idaho, USA, zum Ende des 20. Jahrhunderts. Taras Vater ist Mormone und lebt in ständiger Vorbereitung auf das Ende aller Tage – schafft Vorräte, Waffen und massenweise Benzin an. Gleichzeitig glaubt er an eine Verschwörung der Regierung, die ihn und seine Familie kontrollieren wollen. Mit ihrem Bildungssystem will sie den Kindern eine Gehirnwäsche verpassen, Ärzte sind Diener Satans und wollen die Menschen krank, nicht gesund, machen.

Taras Leben ist geprägt von Furcht, Gewalt, schweren Unfällen und Verletzungen und himmelschreiender Ungerechtigkeit. Ohne jegliche Bildung fällt es Tara schwer, diese Situation in Frage zu stellen. Schließlich hat Gott die Dinge so eingerichtet, wie sie sind, und an der Autorität ihres Vaters als einem der treusten seiner Anhänger zu zweifeln, würde geradezu Gotteslästerung gleichkommen.

Das junge Mädchen wächst in der Gewissheit auf, dass ihre Zukunft bereits festgelegt ist: heiraten, Kinder kriegen, ihrem Mann und natürlich Gott dienen. Doch irgendetwas in ihr wehrt sich dagegen. Sie lässt es darauf ankommen und absolviert den Aufnahmetests fürs College. Noch nie zuvor war sie an der Schule und wenn sie „Schule machte“, strich sie eine Weile über die Seiten ihres Mathematikbuchs, bis sie keine Lust mehr hatte und ihre Mutter stolz verkündete, dass ein solcher Fortschritt eben nur im Heimunterricht möglich ist. Entsprechend niedrig sieht Tara ihre Chancen, den Test zu bestehen. Und dennoch – sie schafft es. Als sie ihr Studium an der BYU beginnt, wird sie er einmal nicht nur mit der eigenen Unwissenheit konfrontiert, sondern auch mit der Lebensweise der „anderen“, die körperbetonte Kleidung tragen und ab Sabbat einkaufen.

Je mehr sie sich in diese neue Welt einlebt, desto mehr entfernt sie sich auch von ihrer Familie. Es ist, als hätte sie den verbotenen Apfel der Weisheit gekostet und erkenne nun, wie sie sich selbst belogen, alle Aussagen ihres Vaters ohne Hinterfragen hingenommen und sich auch die grausamsten Handlungen kleingeredet hatte. Wie einfach wäre es, diese Erkenntnis erneut zu leugnen, zu ihrem alten Leben zurückzukehren. Doch auch das bringt Bildung mit sich – Selbstbetrug ist nicht länger möglich.

Aus Tara Westovers „Befreit“ geht hervor, dass Bildung so viel mehr ist als Aussichten auf einen gut bezahlten Job. Bildung ist für die junge Frau ein Weg zu sich selbst zu finden, sich für das Leben zu entscheiden, das sie will und nicht das, das ihr von der Gesellschaft oder ihrem Vater aufgezwungen wird. Obwohl es sie unheimlich viel kostet, diesen Weg zu gehen, zieht sie ihre Entscheidung durch, entscheidet sich für die Wahrheit. Sie verliert viel, gewinnt aber auch wertvolle Erfahrungen, gute Freunde und Familienmitglieder und vor allem: die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens.

„Befreit“ ist keine leichte Kost, gerade weil einem Taras Schicksal unheimlich nahe geht. Insofern ist es kein Lesevergnügen in dem Sinn, aber ein sehr gut geschriebenes Buch, das dem Leser zeigt, welche Macht man über sein Leben haben kann und dass es auch aus scheinbar hoffnungslosen Situationen einen Ausweg gibt, auch wenn er viel Kraft kosten kann.

Die Geschichte ist absolut lesenswert, aufwühlend und hoffnungsvoll trotz all der Rückschläge. Ein unheimlich starkes Buch über Selbstfindung, Emanzipation der Frau und des Individuums und das Streben nach der Wahrheit.