Überwältigende, bedrückende & inspirierende Biografie, die ihr euch nicht entgehen lassen solltet

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lovely_lila Avatar

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* Spoilerfreie Rezension! *

Inhalt

Tara Westover wächst in einer Familie fundamentalistischer Mormonen auf, die weder an Bildung noch an die moderne Medizin glauben. Der paranoide Vater bereitet seine Frau und Kinder jahrelang auf den Weltuntergang vor, setzt sie unglaublichen Gefahren aus und trichtert seiner Tochter immer wieder ein, wie eine „anständige“ Frau zu sein hätte. Dass es Tara Westover gelingt, aus dieser Welt auszubrechen, sich selbst genug Wissen anzueignen, um auf der Uni angenommen zu werden, und schließlich sogar zu promovieren, erscheint unglaublich. Und doch erzählt die Autorin in diesem Buch ihre wahre Lebensgeschichte…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: weiblicher Sicht geschrieben (Tara Westover)
Kapitellänge: meist mittel, manchmal kurz
Tiere im Buch: -! Es werden viele Tiere ohne schlechtes Gewissen getötet, um sie zu essen, oder auch verkauft, um geschlachtet zu werden. Zusätzlich wird ein Hund auf brutale, tierquälerische Weise und vollkommen grundlos getötet. Für Tierliebhaber ist dieses Buch daher nicht ganz so einfach zu verdauen.

Warum dieses Buch?

Als angehende Lehrerin liegt mir das Thema Bildung natürlich sehr am Herzen. Daher hat mich der Klappentext sofort neugierig gemacht. In reichen Ländern wie Österreich, die ein vergleichsweise gutes Schulsystem haben, wird der Zugang zu Bildung von uns und unseren Kindern oft als selbstverständlich angesehen. Dass hier eine Frau, die hart für ihre Bildung kämpfen musste, über dieses Thema spricht und uns dabei eine vielleicht völlig neue Sichtweise präsentiert, fand ich sehr interessant. Zudem wurde das Buch 2018 von Ex-Präsident Obama als Sommerlektüre empfohlen – eine Empfehlung, die ich nicht ignorieren wollte.

Meine Meinung

Einstieg (-!)

Der Einstieg stellt meinen größten Kritikpunkt dar: Es ist mir wahnsinnig schwer gefallen, einen Zugang zur Geschichte zu finden und ganz darin einzutauchen. Über mehrere Wochen und Monate habe ich mit diesem Buch gekämpft, habe es immer wieder weggelegt und überlegt, ob ich es abbrechen soll. Erst nach 150 Seiten, durch die ich mich trotz des einnehmenden Schreibstiles quälen musste, habe ich in die Geschichte gefunden. Woran das genau lag, kann ich nicht genau beschreiben – eventuell daran, dass die Handlung am Beginn nur sehr langsam fortschreitet oder daran, dass ich mich erst an den anspruchsvollen Schreibstil gewöhnen musste. Gebt nicht vor Seite 150 auf – es lohnt sich!

„‘Was ist College?‘, fragte ich.
‚College ist eine extra Schule für Leute, die zu dumm waren, es beim ersten Mal zu lernen“, sagte Dad.“ Seite 70

Schreibstil (♥)

Tara Westover hat einen anspruchsvollen Schreibstil, dieses Buch kann also auf keinen Fall nebenbei gelesen werden. Es dauerte etwas, bis ich mich an die Sprache gewöhnt hatte, doch dann habe ich sie lieben gelernt. Die Autorin schreibt sehr flüssig und angenehm, anschaulich, poetisch und ästhetisch. Kaum zu glauben, dass es sich hier um ein Debüt handelt! Gefühle werden nuanciert und mitreißend geschildert, auch spannende Passagen werden gekonnt inszeniert. Nur selten (vor allem am Beginn) gab es langatmige Abschnitte, die es mir etwas erschwert haben, mich zu motivieren, weiterzulesen. Liebhaber_innen von qualitativ hochwertiger Literatur werden diesen Stil lieben. Mit einer eindringlichen Erzählstimme und absolut wunderbaren Beschreibungen, Vergleichen, Metaphern und sprachlichen Bildern nimmt uns Tara Westover mit auf eine Reise, die ganz und gar unglaublich erscheint und die mich auch lange nach dem Lesen nicht losgelassen hat.

„Manchmal gibt es das in einer Familie: ein Kind, das nicht hineinpasst, das aus dem Rhythmus ist, dessen Metrum auf die falsche Melodie eingestellt ist. In unserer Familie war das Tyler.“ Seite 72

Inhalt, Themen & Botschaften (♥)

Was für ein Buch! Das waren die ersten Worte, die mir durch den Kopf gingen, als ich dieses Werk zuschlug. Tara Westovers Geschichte erscheint unwirklich, unglaublich: Es passiert so viel – Schönes, aber vor allem auch Schreckliches – , dass man im ersten Moment gar nicht glauben kann, dass es sich hier um eine Biographie mit Wahrheitsanspruch handeln soll und nicht um überdrehte Fiktion. Dabei war das Buch für mich stellenweise sehr schwer zu verdauen, vor allem was die Rückschläge, die Tara wiederfuhren, die intensiven Schilderungen der Gewalt in ihrer Kindheit und die schädlichen Frauen- und Männerbilder, die ihr so tief eingeimpft wurden, dass sie sich auch lange als Erwachsene, erfolgreiche Akademikerin nicht davon befreien konnte, betrifft. Auch heute scheint die Autorin noch mit ihrer Abstammung und Vergangenheit zu kämpfen, das Thema scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Auf jeden Fall wünsche ich der Autorin alles Gute und dass sie ihren Frieden findet.

Tara Westovers Geschichte macht wütend, ist überwältigend, berührend und schockierend, und sie führt dazu, dass man seine eigenen Bildungserfahrungen in einem ganz anderen Licht sieht. Die Hindernisse, denen ich auf meinem eigenen Bildungsweg als erstes Kind einer Arbeiterfamilie, das studiert, begegnete, erscheinen geradezu lächerlich und marginal, wenn man sie mit Taras Kampf um Bildung, Selbstbestimmung und Freiheit vergleicht. Ohne Frage ist sie eine beeindruckende Frau, die Unglaubliches geleistet hat.

Gewidmet ist das Buch Tyler, Taras älterem Bruder, der ihr ein wichtiges Vorbild war und sie immer unterstützt hat. Er wirkt tatsächlich wie ein Lichtblick in einer Welt, die als Außenstehende für mich absolut unwirklich erschien. Die Autorin schreckt vor den hässlichen Seiten ihres Lebens nicht zurück und beschreibt detailliert die schrecklichen Verletzungen, die ihre Familienmitglieder und sie selbst immer wieder erleiden und die nicht ärztlich behandelt werden. Für empfindliche Mägen ist das Buch daher mit Sicherheit nicht gut geeignet. Wichtige, aber schwierige Themen wie Unterdrückung, psychische Krankheiten, häusliche Gewalt, Fanatismus, die Loslösung von der eigenen Famlilie und Minderwertigkeitskomplexe werden ebenfalls nicht ausgeklammert, sondern ehrlich, feinfühlig, authentisch und tiefgründig behandelt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es für die Autorin schmerzhaft war, in ihren alten Tagebüchern zu lesen und dieses Buch zu verfassen. Doch es hat sich meiner Meinung nach gelohnt: Die vorliegende Geschichte ist einzigartig und inspirierend und ist es definitiv wert, gelesen zu werden.

Protagonistin und Figuren (♥)

„Es mag noch so klar sein, dass man einen Nervenzusammenbruch hat, nur einem selbst ist es nicht klar. ‚Mir geht’s doch gut‘, denkt man. ‚Vierundzwanzig Stunden nonstop ferngesehen gestern, na und? Ich bin nicht am Ende. Ich bin bloß faul‘.“ Seite 414

Es ist sehr leicht, mit Tara mitzufühlen. Mit jeder gelesenen Seite schließt man diese starke, niemals arrogante weibliche Protagonistin mehr ins Herz, will sie umarmen, trösten, schlicht aus dieser Familiensituation „retten“. Taras intensive Gefühle und ihre lebendige Gedankenwelt werden sehr anschaulich beschrieben, sodass es einfach war, ihre Handlungen, Ängste und Zweifel zu verstehen und ein Genuss, sie auf ihrer Reise zu begleiten.

Auch die anderen Figuren wirken lebendig und dreidimensional. Großen Respekt hat die Autorin dafür verdient, dass sie nach allem, was ihr vor allem von ihrem Bruder und ihren Eltern angetan wurde, auch die positiven Seiten ihrer Verwandten schildern und mit einem erstaunlich liebevollen Blick auf sie blicken konnte. Ich weiß nicht, ob mir das gelungen wäre – wahrscheinlich nicht. Es wäre einfach gewesen, sie als böse Menschen darzustellen und sich damit die Wut von der Seele zu schreiben, doch Tara ist es gelungen, genau das nicht zu tun und ihre Familienmitglieder so ehrlich und authentisch wie möglich zu beschreiben. Das Ergebnis sind real wirkende Menschen, mit einnehmenden guten und erschreckenden negativen Seiten, die in den Graubereichen zwischen „gut“ und „böse“ zu Hause sind. Dankbar war ich beim Lesen jedem, der Tara in irgendeiner Weise geholfen hat und es gut mit ihr gemeint hat. Aus diesem Grunde gehörten Charles und Tyler zu meinen Lieblingsfiguren.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

„Befreit“ gelingt es leider nicht durchgehend, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Vor allem am Beginn gibt es langatmige Stellen und Spannungseinbrüche. Nach dem ersten Drittel des Buches entwickelte das Buch jedoch einen regelrechten Sog, dem ich nur schwer entfliehen konnte. Ich wollte Tara unbedingt bis zum sehr gelungenen, lange nachklingenden Ende begleiten, auch wenn bei diesem trotz der großen Leistungen der Autorin ein seltsam unbefriedigender, ernüchternder und bedrückender Unterton mitzuschwingen scheint.

„Doch Rechtfertigung hat keine Macht über Schuldgefühle. Keine noch so große gegen andere gerichtete Wut kann sie lindern, weil die Schuldgefühle nie ‚sie‘ betreffen. Sie sind die Angst vor der eigenen Erbärmlichkeit.“ Seite 440

Feministischer Blickwinkel (♥)

Es gibt zwar viele frauenfeindliche Ansichten in diesem Buch (und frauenfeindliche Ausdrücke wie z. B. Hu++), doch stets werden die negativen, schmerzhaften und schädlichen Konsequenzen von toxischer Männlichkeit dargestellt. Man merkt, was dieses Gedankengut anrichten kann und kann das Buch daher als Kritik an veralteten, misogynen Frauenbildern und religiösem Fanatismus lesen. Zudem steht eine unglaublich starke, tolle Frau im Zentrum dieser Geschichte, die als Inspiration und Vorbild dienen kann, weil sie niemals aufgegeben hat und trotz aller Widerstände ihren Weg gegangen ist – auch wenn das sehr schwer war und es sicherlich auch immer noch ist. Dafür gibt es ein Herz.

Mein Fazit

„Befreit“ ist eine unglaubliche, überwältigende, berührende, bedrückende und schockierende Geschichte, die einem oft schwer im Magen liegt und die einen nach dem Lesen nicht so schnell wieder loslässt. Es lohnt sich, durchzuhalten, auch wenn man (wie ich) nicht sofort einen Zugang zur Geschichte findet. Taras Westovers Schreibstil ist anspruchsvoll, aber trotzdem flüssig, er ist poetisch, eindringlich und voller wundervoller Vergleiche und sprachlicher Bilder. Die starke weibliche Protagonistin ist eine beeindruckende, sympathische Persönlichkeit, die einem mit jedem Kapitel mehr ans Herz wächst und mit der ich intensiv mitgefühlt und mitgelitten habe. Großen Respekt hat die Autorin dafür verdient, dass sie es schafft, ihre Familienmitglieder authentisch und mit all ihren guten und schlechten Seiten darzustellen (trotz allem, was ihr angetan wurde) und dafür, dass sie auch schwierige Themen wie Fanatismus, psychische Krankheiten, Misogynie, die Loslösung von der eigenen Familie und physische und psychische Gewalt ehrlich, feinfühlig und tiefgehend behandelt. Auch wenn es vor allem im ersten Drittel des Buches Spannungseinbrüche und langatmige Stellen gibt, so ist das Kritik auf hohem Niveau. „Befreit“ ist nämlich insgesamt eine rundum gelungene Biographie und eine beeindruckende, inspirierende Lebensgeschichte, die beim Lesen etwas mit einem macht und einen in gewisser Weise verändert zurücklässt. Deshalb: Unbedingt lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 2 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses gelungene Buch bekommt von mir 5 Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!