Was Bildung ausmacht

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sapere_aude Avatar

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Tara Westover erzählt in 'Befreit' ihre autobiografische Geschichte, wie sie in der Kindheit von ihrer strenggläubigen mormonischen Familie von Bildung und vielen Aspekten der modernen Welt abgeschirmt wurde - und dennoch mit 17 Jahren beschloss, aufs College zu gehen und das Verpasste nachzuholen.
In der ersten Hälfte des Buches beschreibt sie in vielen kleinen Episoden das Leben ihrer Familie in den Bergen Idahos: die Arbeit auf dem Schrottplatz ihres Vaters und die vielen Verletzungen, die sie und ihre Geschwister dadurch erlitten haben; die Arbeit ihrer Mutter als Hebamme und Heilpraktikerin. Sie beschreibt, wie durch die radikalen Äußerungen insbesondere ihres Vaters ihr Welt- und Selbstbild entstand.
Es ist kein einzelnes Ereignis, das Westover dazu bewegt, ihr Elternhaus zu verlassen und sich für ein College zu bewerben, sondern ein langwieriger und schmerzhafter Prozess. Sie lernt für die Aufnahmeprüfung, wird angenommen und wagt sich in eine Welt, die sie vorher noch nicht einmal aus Beschreibungen kannte. Ihre College-Erfahrungen und weiterer Bildungsweg bilden den zweiten Teil des Buches.
Spannend ist die Radikalität Westovers Schilderungen. So gelang es ihren Eltern in drastischer Weise, ihre Kinder von der Außenwelt abzuschirmen, ihnen wesentliche Kenntnisse und Informationen zum Beispiel über Geschichte, Geografie und Alltagspraxis vorzuenthalten. Dies bedeutet wiederum für Westover, dass sie am College zunächst oft nicht weiß, wo sie überhaupt eine Wissenslücke hat und wo sie ansetzen müsste, um diese zu füllen. Wichtige Schlagworte und Kategorien, durch die Bilder, Fotografien und Texte schnell eingeordnet werden können, kennt sie nicht.
Indem Westover erst so spät eine systematische Bildung erfahren hat, hat sie den Lern- und Bildungsprozess sehr eindrücklich erlebt und vermag ihn in ihrem Buch nachvollziehbar zu schildern. Somit ist ‚Befreit‘ auch eine interessante Lektüre über Bildung im umfassenden Sinn und welche Wege und Perspektiven einem diese eröffnet. Westover erinnert so daran, dass die Vorzüge von Bildung niemals selbstverständlich sind.
Insgesamt ist das Buch schnell und leicht lesbar, auch wenn manche, sich wiederholende Episoden für den Leser entbehrlich wären. Trotz seiner nicht zu schmälernden edukativen Bedeutung würde ich ‚Befreit‘ eher im Taschenbuch als in der gebundenen Ausgabe kaufen.