Von Leuten und Mauern

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In einem Dorf aufzuwachsen hat seine Vor- und Nachteile. In der Kindheit ist es eigentlich ganz nett. Die Freunde wohnen alle um die Ecke, man ist viel draußen und statt unter elterlicher Aufsicht die Nachmittage auf dem Spielplatz zu verbringen, darf man mit den Freunden allein durchs Dorf stromern und Wald und Wiesen erkunden. Naja, kommt natürlich auch auf die Familie an. In meiner wurde Freiheit nicht ganz so groß geschrieben und spätestens in der Pubertät wurde mir das Dorf dann schnell zu eng. Jeder kennt jeden, alle tratschen übereinander und es ist schwieriger über den Horizon zu blicken, wenn man über die Dorfgrenzen nicht hinaus gekommen ist. Silvia empfindet das ähnlich, wenn auch aus anderen Gründen. Sie hat ihre Freiheit im geteilten Berlin gefunden und sollte eigentlich glücklich sein. Doch als frischgebackene Mutter fühlt sie sich in ihrer chaotischen WG ganz fehl am Platz und der Groll gegenüber dem Kindsvater, der nur ein kurzes Abenteuer bei ihr suchte, ist auch keine Hilfe. Zum ersten Mal seit 18 Jahren verspürt sie den starken Drang zurück nach Hause zu ihrer Mutter zu wollen. Sich einfach in deren Arme fallen und alles gut werden zu lassen. Also schnappt sie sich ihre Tochter Hannah und das Auto ihres Mitbewohners und fährt in den Süden zurück in die Heimat.
Alena Schröder beschert uns hier ein Wiedersehen mit Hannah und ihrer Großmutter Evelyn aus ihrem Debütroman „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“. Und wir dürfen dazu Hannahs Mutter Silvia kennenlernen und eintauchen in die komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Evelyn und Silvia. Alena Schröder bleibt ihrem Erzählprinzip treu und springt zwischen den Jahren und Erzählperspektiven hin und her. Wir erleben Evelyn, die 1950 den Bruder ihrer Freundin Betti heiratet und Ärztin wird. Wir begleiten Silvia in ihrer Kindheit und im traumatischen Jahr 1971, in der sich ihr Lebensweg ein für allemal ändern wird, ebenso wie der ihrer Tante Betti, die unter der Enge ihrer Heimat und den Ansprüchen ihrer Familie leidet. Im Sommer 1989 lernt Evelyn nun ihre Enkelin Hannah kennen und zwischen Tochter und Mutter scheint erstmals eine Annäherung möglich.
Ich bin ehrlich beeindruckt, wie gut Alena Schröder das Erzählen beherrscht. Bereits in ihrem Vorgängerroman ist mir aufgefallen, dass sie für jede Figurenperspektive eine eigene Erzählsprache findet. Jede Figur bekommt ihren ganz eigenen unverwechselbaren Ton. Das gibt der Erzählung eine ganz spezielle Tiefe. Diese entsteht auch durch die Themen, mit denen sich die Autorin auseinandersetzt. Die Traumata, die sich in einer Familie festsetzen können und das Leben aller beeinflussen. Eine Mutterschaft, die sich ganz anders als gedacht äußert. Versteckte Liebe, geborgtes Leben, Sprachlosigkeit, Betrug, Missbrauch und Verrat. Familie eben. Ein erzähltes Wechselspiel aus vermeintlicher Normalität und tiefer Unzufriedenheit, dass wie nebenbei mehrere Generationen mit ihren Erfahrungen, Ansichten und Gefühlen beleuchtet. Die deutsche Geschichte immer im Blick.