Bedrückend und auch beeindruckend

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gkw Avatar

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Als Franks Eltern ihr Haus verkaufen, bitten sie ihn vorbeizukommen, um auszusuchen, was er mitnehmen möchte. Dabei findet er eine alte rote Kiste, von der er noch weiß, dass sie seinem Großvater gehörte. Sein Vater möchte sie nicht behalten und er möchte auch nicht reden über seine Kindheit. Stellt man ihm Fragen zu seiner Vergangenheit, behauptet er, sich nicht erinnern zu können. All die Jahre hat sich Frank damit zufrieden gegeben, nun - da er selbst vor einem Umbruch steht - beschließt er, die noch lebenden Tanten und Onkel aufzusuchen, um sie nach ihrer Kindheit und den Großeltern zu befragen. Seine Freundin behauptet, die Vergangenheit des Vaters und Großvaters habe auch ihn und seine Art zu leben geprägt.
Franks Vater Otto wuchs in der Nachkriegszeit als eines von zwölf Kindern in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet auf. 14 Menschen auf 60 qm, die Geschwister werden in der Nachbarschaft Karnickel genannt. Die Kindheit war geprägt von Armut, Hunger und Gewalt. Aber das ist nur die eine Seite, es gab auch Zusammenhalt und Stolz, sie geben nicht auf, sie kämpfen weiter.
Eigentlich wollte Frank mehr über das Leben seines Großvaters erfahren, durch seine Gespräche mit den Geschwistern lernt er auch seinen Vater Otto besser kennen, nähert sich ihm an. Und dann muss er sich noch mit seiner eigenen Situation auseinandersetzen: Er ist Anfang 40, lebt mehr oder weniger wie ein Student in einer kaum möblierten Wohnung, hält sich mit freiberuflichen Aufträgen über Wasser, gerade so, dass es reicht. Mehr als das will er auch nicht, er hat keine Ambitionen und Ziele. Haben das Leben seiner Vorfahren und die Traumata der Familie etwas damit zu tun?
Martin Simons präsentiert sehr unterschiedliche, aber durchweg glaubwürdige Charaktere. Sie alle haben verschiedene Wege gewählt, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Er erzählt die Geschichte ruhig, klar und auch warmherzig.
Das Buch handelt von Prägungen, die durch das Leben entstehen und von den Möglichkeiten, mit der Vergangenheit abzuschließen, sie hinter sich zu lassen.
Es handelt auch von der Sprachlosigkeit in der Familie und diese Sprachlosigkeit entsteht dann angesichts der geschilderten Erlebnisse auch beim Leser .
Es gab in den letzten Jahren einige Bücher, die sich mit Kindheit in prekärer Armut beschäftigt haben und es gab weitere Bücher, die von der Annäherung an Vater oder Mutter handelten.
Das Besondere an diesem Buch ist die Mischung. Hier sind beide Aspekte aufgegriffen, zusätzlich gibt es noch die Verknüpfung zum Leben des Icherzählers in der aktuellen Zeit.
Beim Lesen sind viele eigene Erinnerungen in mir wach geworden und natürlich auch Gedanken darüber, welche Prägungen ich durch meine Kindheit und meine Erlebnisse möglicherweise erhalten habe.