Große Erzählkraft

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wandablue Avatar

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Italien im Klassenkampf: ich mochte gerade die politischen und klassenkämpferischen Zusammenhänge, also genau das, was (nur manchen) anderen geneigten Leserinnen auf den Senkel ging.

Borgo die Dentro, geographisch zum Piemont gehörend, von Tradition und Sprache eher ligurisches Dorf, sagt die Autorin im Nachspann, ist das Zentrum dieser Erzählung. Von dort entfaltet sich der Roman: vom speziellen Streik der Seidenspinnereiarbeiter Anfang des 20. Jahrhunderts, also der Ausbeutung der Arbeiterschaft durch das Kapital, über ein halbes Jahrhundert hinweg bis zu einigen modernen Errungenschaften wie Frauenwahlrecht und bescheidenem wirtschaftlichen Aufschwung.

Diese ersten fünfzig Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts sind die schwersten Jahre Italiens und der europäischen Welt seit dem dreißigjährigen Krieg. Zwei Weltkriege erschüttern die Völker und machen Einzelschicksale zu Würfen aus Würfelbechern.

Auch zwischen den Kriegen sind die Arbeiter, die Handwerker, also die kleinen Leute, den jeweils herrschenden Autoritäten ausgeliefert. Dennoch bringt der ligurische Menschenschlag viele aufrechte und widerstandsfähige Menschen hervor, die den Großen die Stirn bieten und um ein menschenwürdiges Leben kämpfen.

Raffaella Romagnolo, deren zahlreiche Romane bisher leider nicht ins Deutsche übersetzt wurden, erzählt alles: es ist eine großartige Generationengeschichte zweier Familien, vom Schicksal per se (Destino, so lautet denn auch der Originaltitel), von Mut und Liebe. Ihre Frauengestalten sind stark und authentisch, nicht übertrieben. Sie erzählt aber vor allem auch von den Wirren der Zeit, von der Politik Italiens, von den Großgrundbesitzern, von der Seidenspinnerei, dem Weinanbau, vom Faschismus, vom Krieg, von Heimkehr und Heimat. Es ist wohltuend, dass einmal nicht Deutschland im Mittelpunkt einer derartigen Erzählung steht.

Den Gegenpol des Romans stellt die Neue Welt dar: Giulia Masca, eine junge Spinnerin, ist unter widrigen Umständen nach New York ausgewandert. Hat dort ihr Glück gemacht, aber die Heimat nie vergessen.

Auch in den Staaten war nicht alles Zucker. Die Immigranten kämpfen um den wirtschaftlichen Aufschwung und gegen die Ressentiments der Amerikaner gegen Eingewanderte. Rassismus ist an der Tagesordnung.

An den Erinnerungen Giulia Mascas entlang bewegt sich die Geschichte. Es sind Erinnerungsassoziationen, die Gedanken der Hauptperson sind mal da, mal dort. Sie geht durch das Dorf oder denkt an zu Hause, an ihre Kindheit oder an die Gegenwart: So erarbeitet sich die Autorin den Luxus von unmittelbaren Tempiwechseln, manchmal mitten in einem Absatz, die jedoch nie gestellt wirken, sondern immer organisch im Gesamten verwoben.

Bella Ciao hat alles, was ein großartiger Roman braucht: starke Menschen, bewegende Schicksale, die Autorin bringt Politik und Geschichte mit spielender Leichtigkeit unter einen Hut, anrührend oft, ohne pathetisch zu werden, ohne je zu langweilen. Freilich ist es ein fordernder Roman, da an dem geneigten Leser eine Vielzahl von Protagonisten vorüberziehen. Beinahe meint man, es ist zu viel Schicksal, zu viel Drama, doch zwei Weltkriege waren große Spielverderber individueller Wünsche und Pläne. Sie haben mehr zerstört, als Raffaella Romagnolo je aufzählen könnte.

Fazit: Es ist die große Erzählkraft dieses Romans und Raffaella Romagnolos nicht genug zu würdigen! Es wäre sehr zu wünschen, dass der Erfolg von Bella Ciao dazu führt, dass weitere Romane der Autorin ins Deutsche übersetzt werden. Wir haben viel zu wenig europäische Literatur auf dem Markt.

Kategorie: Belletristik. Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Diogenes 2019