Intensive Familiensaga

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webervogel Avatar

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Raffaella Romagnolo erwähnt das titelgebende Partisanenlied „Bella Ciao“ nur einmal namentlich in ihrem neuesten Buch, doch Partsianen gibt es dafür reichlich. Die Handlung spielt im Dorf Borgo di Dentro im ialienischen Piemont, in das die Amerikanerin Giulia Masca 1946 zurückkehrt, nachdem sie es 45 Jahre zuvor in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen hat. Giulia Masca stammt aus einfachsten Verhältnissen und hat schon als Kind in der örtlichen Seidenspinnerei gearbeitet. Wegen des Verrats einer Freundin hat sie die Heimat verlassen und in New York Glück und Wohlstand gefunden, während Europa erst vom Ersten und dann vom Zweiten Weltkrieg erschüttert wurde. Nun ist sie für eine Nacht zurückgekehrt und die Erinnerungen holen sie ein. Doch nicht nur Giulia Mascas Leben wird in Rückblicken berichtet – auch das ihrer Kindheitsfreundin Anita Leone, die Borgo die Dentro nie verlassen hat. Im Gegensatz zu Einzelkind Giulia wurde Anita in eine starke und nicht ganz so arme Großfamilie hineingeboren, die gepachtete Weinberge bewirtschaftet. Ihre Kindheit ist glücklicher als die ihrer Freundin, doch leicht hat sie es später nicht. Die Autorin schildert entbehrungsreiche, harte Arbeiterleben, die von Existenzängsten, Kriegen und Naturkatastrophen erschüttert werden, doch auch von Liebe, Zusammenhalt und Loyalität geprägt sind. Gleich an zwei Stellen hat Raffaella Romagnolo Stammbäume eingefügt, damit ihre Leser von den komplexen Beziehungsgeflechten nicht zu verwirrt sind. Ich musste nur manchmal darauf zurückgreifen: Die meisten Figuren sind gut greifbar und mit klaren Eigenheiten versehen, was es leichter macht, sich in den verschiedenen Familienverbünden einigermaßen zurechtzufinden.

„Bella Ciao“ ist nicht immer ganz einfach zu lesen. Nicht so sehr wegen der Fülle an Protagonisten, auch nicht wegen der immerhin fast ein halbes Jahrhundert umfassenden, umrissenen italienischen Geschichte: Was mir etwas zugesetzt hat, sind Beschreibungen von Elend und Leid. Als Leser zieht man mit den Figuren in Schlachten, die in den meisten Familiensagas nicht so detailliert beschrieben werden. Beim Lesen war ich mehr als einmal froh, 100 Jahre nach den Hauptfiguren geboren zu sein. Doch „Bella Ciao“ ist auch einer dieser Romane, die einem eine ganz neue, in meinem Fall unbekannte Welt eröffnen, die man nicht mehr vergisst. Die Autorin schreibt mit viel Einfühlungsvermögen und schafft so komplexe Entwicklungen, in denen Menschen über sich hinauswachsen und auch Gut und Böse nicht immer klar zu trennen sind. Ich empfehle, sich etwas Zeit für „Bella Ciao“ zu nehmen – es ist kein Buch, bei dem es reicht, jeden Abend vor dem Einschlafen ein paar Seiten zu lesen. Doch wem es möglich ist, sich von Raffaella Romagnolo nach Borgo di Dentro mitnehmen zu lassen, der wird mit einem intensiven Leseerlebnis belohnt und weder Giulia Masca noch die Familie Leone schnell vergessen können.