Unterm Maulbeerbaum

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aennie Avatar

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Borgo di Dentro im Piemont um 1900. Die neunzehnjährige Giulia Masca arbeitet seit ihrem elften Lebensjahr schon in der Seidenfabrik des Ortes, wie viele andere Frauen ihrer Schicht in der Gegend. Sie sind Fabrikarbeiterinnen, Spinnerinnen, Weberinnen, wenige Jahre Schulbildung, wenn überhaupt, Ehen werden geschlossen, Kinder werden geboren, einige überleben, andere nicht. Es ist ein raues Leben einfacher Menschen, mit rauen Umgangsformen, und bei manchen ist auch unter der harten Schale kein weicher Kern zu finden.
Aber Giulia ist mit ihrem Leben im Grunde zufrieden, sie kennt kein anderes und wenn sie erst mit Pietro Ferro verheiratet sein wird, wer weiß was dann passiert. Als sie ihn jedoch zusammen mit ihrer besten Freundin, ihrer „Schwester“ Anita sieht, kommt es dem Leser fast wie eine Kurzschlussreaktion vor. Giulia nimmt ihre gesamten Ersparnisse, macht sich auf nach Genua und besteigt ein Schiff, dass sie wenig später auf Ellis Island wieder verlässt. Den Maulbeeren bleibt sie treu, in der Mulberry Street 117, in die sie ein betrügerischer Landsmann – natürlich nach dem Einstreichen einer Vermittlungsgebühr – geschickt hat, um dort eine Arbeitsstelle anzutreten – beginnt ein vollkommen neues Leben für Giulia an der Seite von Libero. Nach dem zweiten Weltkrieg kehrt Giulia zurück nach Borgo di Dentro – warum, das weiß man nicht so genau. In Rückblenden werden nun das gesamte Leben Giulias genauso wie das der mit ihr verbundenen Personen in Borgo di Dentro aufgerollt, sowohl auf persönlicher Ebene als auch immer in Bezug auf die politischen Strömungen in Italien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere spielen der Sozialismus in der Arbeiterschicht und dann der aufkommende Faschismus eine wichtige Rolle.

Bella Ciao ist kein einfaches Buch, gerade das erste Viertel bis Drittel benötigt es schon, um in das Geschehen wirklich einzutauchen, die Familienstrukturen (halbwegs) im Kopf zu haben, und nicht wirklich jedes Mal den dankenswerterweise den Stammbaum zu Beginn jedes Buchteils zu bemühen.
Dann jedoch packt es einen, es ist großartig erzählt, lebendig, detailreich, naturalistisch und plötzlich sogar spannend. Problematisch fand ich allein die Tatsache, dass manchmal Rückblenden in Giulias Gedanken vollkommen übergangslos von einem Satz zum nächsten zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her sprangen, da habe ich ein paar Mal gestutzt, allerdings gewöhnt man sich auch daran und registriert es irgendwann einfach, dass es so ist.

Insgesamt hat es mir gut gefallen, ein Buch der italienischen Belletristik zu lesen, immer wieder muss ich fest stellen, dass es sich sehr lohnt, jenseits des Krimisektors auch in andere Bereiche „landestypischer“ Bücher hineinzustoßen, so nah die Länder sind und so oft man sie vielleicht schon besucht hat, man erfährt auf diese Weise in meinen Augen sehr viel mehr von den Auswirkungen vielleicht sogar bekannter historischer Hintergründe.

Und wieder einmal mein Kritikpunkt: Bella Ciao. warum dieser Titel? Das Partisanenlied Bella Ciao wird EIN EINZIGES mal im Roman erwähnt. Und auch da singt es keiner, es wird nur erwähnt, in einer Aufzählung neben einigen anderen Liedern, die bei einer Gelegenheit erklingen. Ein Schelm, der nun daran denkt, dass man bei der Titelwahl aktuelles Chartgeschehen und Netflixserien im Hinterkopf hatte. Im Original lautet der Titel schlicht „Destino“ – Schicksal. Finde ich jetzt nicht so unpassend.

Fazit: Klare Leseempfehlung! Durchhalten, was Anzahl und Namen der Personen angeht, lohnt sich.