Gesellschaftssatire am Puls der Zeit

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gaudbretonne Avatar

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Schon beim Lesen der Leseprobe wird man von dem Tempo des Textes erfasst. Alles scheint kurzlebig und der Leser gerät in einen Strudel der Ereignisse, dem er sich nicht entziehen kann. Diese Dynamik ist wahnsinnig interessant und man fühlt geradezu wie die Nerven der Figuren blank liegen.

In „Berlin Heat“ von Johannes Groschupf wird das doppeldeutig „heiße Berlin“ nach der Pandemie im Sommer 2021 und vor der Bundestagswahl thematisiert. Im Mittelpunkt steht der Protagonist Tom Lohoff, der für seinen Vater Wohnungen an partyfreudige Touristen vermietet und dabei auch für ein Rundum-Wohlgefühl sorgt, - Drogen und Events inbegriffen. Allerdings verzockt er als Spielsüchtiger sein Geld und das seiner Mitmenschen in Casinos und Wettbüros, so dass er hohe Schulden bei einem gnadenlosen Zuhälter angehäuft hat. Hier kommt das Angebot zweier skurriler Typen, denen er eine Wohnung vermieten soll, gerade recht. Doch schon steckt Tom wieder in großen Schwierigkeiten, da er ungewollt in einen politischen Entführungsfall verwickelt wird. Das Drama nimmt seinen Lauf…

Tom ist spielsüchtig, schluckt Ritalin wie Smarties, ständig auf der Suche nach dem großen Kick, dem Gewinn des Jackpots, und wird dadurch zur tragischen Figur, denn er ist leicht verführbar. Groschupf lässt bei der Charakterisierung der Figuren insgesamt kein Klischee aus und überspitzt diese Zeichnung bis ins Satirische. So läuft der Leser, der Tom in Spielhallen, in trostlose Plattenbauwohnungen und an andere, vor allem zwielichte Orte begleitet, in keiner Situation in Gefahr, sich mit diesem Antihelden zu identifizieren. Dennoch ist Tom nicht unsympathisch und aufgrund des Tempos des Schreibstils fiebert man die ganze Zeit mit ihm mit und hegt dabei ständig den Gedanken, dass das alles nicht wahr sein kann, zumal auch die Sprache stets situationsgemäß angepasst wird: stets temporeich, zumeist dreckig und provozierend, immer aber authentisch.

Gesellschaftlich erfolgt im Prinzip eine Generalanalyse, es wird alles angesprochen, was im Jahr 2021 aktuell ist: Die Überwindung der Corona-Krise, die politische Gefahr (nicht nur) von rechts, Fake News und Gentrifizierung, die damit verbundene Wohnungspolitik ebenso wie Umweltpolitik, Drogen, Gewalt, Sexismus, Vorurteile und die Schnelllebigkeit der Gegenwart. Die gesamte Gesellschaft wird unter dem Brennglas der Satire in den Fokus gestellt und kommentiert. Insofern ist die literarische Einordnung unter dem Deckmantel des Thrillers nicht gelungen, das Werk hingegen umso mehr, auch wenn ich mir an manchen Stellen mehr Tiefe gewünscht hätte. Insbesondere der Wandel des Protagonisten am Ende scheint unglaubwürdig. Aber so ist Satire und bedingt eben auch, dass am Ende einige Fragen offenbleiben.

Fazit: Ganz anders als erwartet und unerwartet gut!