Der Wald im Schlafzimmer

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marapaya Avatar

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Viel ging mir beim ersten Lesen des Buchtitels durch den Kopf, wie genau ich mir betrunkene Bäume wohl vorzustellen habe. Die fantastischste Variante war wohl das Szenario von unzähligen Zeichentrickbäumen mit Gesichtern die grölend mit Flaschen in den Zweigen um sich selbst herumtanzten. Dieses Bild hat mich eine ganze Weile nicht losgelassen. Ada Dorian ist dafür ganz im Hier und Jetzt, weit weg von meinen albernen Fantasmen, und wartet dennoch mit berührenden, überraschenden und teils auch traurigen Bildern auf. Ihr Roman liest sich wie ein Streifzug durch die letzten 70 Jahre und bringt Russland und Deutschland in eine ganz enge Verbindung fern jeder Politik und Ideologie. Sie schreibt von der Macht und dem Zauber der gemeinsamen Sprache. Sie thematisiert die Einsamkeit, die jeden ereilen kann, ob jung oder alt. Und sie ist ganz nah bei ihren Figuren, findet die richtigen Worte, um sie in ihren jeweiligen Zeiten und Zuständen echt und wahrhaftig darzustellen, obwohl sie uns Lesern nur ganz kleine Ausschnitte zu ihnen preisgibt.
Wie immer ist es der Zufall der Menschen zusammenführt und es beginnen die ein festes Band zueinander zu knüpfen, die aus dem eigenen sicheren Alltag herausgefallen sind, aus den unterschiedlichsten Gründen und Umständen heraus. Beeindruckt bin ich von Ada Dorians leiser und kluger Sicht auf die Welt. Ihrer Darstellung von der Chance eines Perspektivwechsels, der dadurch entstehen kann, weil wir aus unserer eigenen Not heraus manchmal auch die Not des anderen viel eher wahrnehmen und dann ein Impuls entsteht, diese fremde Not lindern zu wollen. Da ist die junge Katharina, die die Flucht des Vaters weg von der zerbrochenen Familiensituation nicht aushalten kann und ebenfalls das einzige Zuhause, das sie kennt, verlässt in die Einsamkeit und ins Ungewisse. Da ist Erich, ein begeisterter Wissenschaftler, seit Jahrzehnten dem Phänomen der betrunkenen Bäume auf der Spur, der sich plötzlich einem ganz neuen Kampf gegenübersieht: Dem Gewahrwerden des eigenen körperlichen Verfallprozesses, der Senilität, der Kraftlosigkeit der Physis und dem Verlust der Sicherheit in sich selbst. Die verlorene Junge und der kraftlose Alte knüpfen Kontakt und sehen sich nun selbst durch die Augen des anderen, erkennen die eigenen Schwächen, Stärken und Wünsche viel leichter als in der Nähe der eigentlich vertrauten Personen im bekannten Umfeld. Durch das episodenhafte Eintauchen in vergangene Zeiten spannt Ada Dorian ein großes Band zwischen der Gegenwart und Vergangenheit von Erich. Sie erzählt von den elementaren Begegnungen in seinem Leben und den wichtigen Wahrheiten. Braucht keine 80 Jahre Lebensgeschichte auszubreiten, um die Figur authentisch darzustellen. Es sind gerade die nicht erzählten Leerstellen, die meine Phantasie als Leser beflügeln, mich durch eigene Szenarien spazieren und die erzählten kurzen Episoden zu einem großen Ganzen miteinander verknüpfen lassen. Ein gutes Buch, denn es spannt mich als Leser mit ein und lässt mich auch in meinem Alltag innehalten und mal genauer hingucken.