ein wortgewaltiger, berührender Roman

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jdaizy Avatar

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"Auf der Fensterbank füllten sich die Blätter wieder mit Leben, nur der Selbstmörder wollte nicht so recht. Von der Eckbank und aus dem niedrigen Winkel im Sitzen bildeten die Pflänzchen einen dichten Wald. Einen Miniaturwald, von dem Erich wusste, wie er später in voller Größe aussehen würde. Obwohl er lange in keinem Wald gewesen war, erinnerte er sich, wie es sich anfühlte, an einem heißen Tag im Schatten eines Baumes mit großer Krone zu sitzen. Er wusste, wie es im Wald roch, wie die Zusammensetzung des Bodens sein musste und welche Pflanzen den Unterwuchs bildeten. Er konnte den Wald bereits spüren."


Professor Erich Warendorf ist über achtzig und wohnt in einer eher verlassenen Gegend, die durch Leerstand in den alten, abgewohnten Wohnhäusern gezeichnet ist. Seine Gesundheit ist nicht mehr die beste und seine Tochter würde ihn gern in einem Pflegeheim unterbringen. Doch wie ein bekanntes Sprichwort sagt: "Einen alten Baum verpflanzt man nicht so leicht." Und so wehrt sich Erich mit Händen und Füßen gegen diese Entscheidung.
Mit viel Gefühl beschreibt die Autorin seine Traurigkeit, seine Ängste und seinen wachen Geist. Immer wieder gibt es Rückblicke in seine berufliche und private Vergangenheit, wobei mir ganz besonders seine spannende Forschungsreise in die Taiga mit seinem Begleiter Wolodja und seinem namenslosen Laika, und seine tiefe Liebe zu seiner Frau Dascha im Gedächtnis geblieben sind.
Als es Ärger mit der Haushälterin gibt, trifft Erich eher unerwartet auf die junge Ausreißerin Katharina. So unterschiedlich die zwei auch auf den ersten Blick erscheinen mögen, verbindet sie mehr als ihre Wohnungen im gleichen Haus. Die zwei kommen sich immer näher und es entsteht eine ungewöhnliche Freundschaft, die beiden Luft zum Atmen und neue Impulse gibt.

Wird Erich Katharina davon überzeugen können, wieder zur Schule und zurück nach Hause zu gehen? Oder wird Katharina bei Erich bleiben und so seine drohende Unterbringung im Heim abwenden können? Und was hat es mit dem verschlossenen Schlafzimmer auf sich? Welches Geheimnis verbirgt Erich dort vor der Außenwelt?

Auch wenn es für die Geschichte nicht vorrangig ist, hat mich der Besuch von Erich und seiner Tochter in einer Seniorenresidenz und sein Gespräch mit Herr Hofmann sehr bewegt. In diesen wenigen Worten steckt so viel Tiefe und Wahrheit. Wir alle werden älter. Und wie wird es uns dann ergehen? Immer wieder habe ich während der Geschichte das Verhalten von Irina gegenüber ihrem Vater hinterfragt und bin zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen. Man könnte es verstehen, man könnte es kritisieren und man könnte es (in Gedanken) selbst besser oder schlechter machen. Doch wer weiß das schon BEVOR man nicht selbst in genau so einer Situation gesteckt hat.
Auch die Vergleiche zwischen dem alternden Erich und "seinen" Bäumen finde ich sehr gelungen. Es steckt so viel Poesie und Kraft in diesen Zeilen. Schwankend, gefangen, gebrochen, aber mit einem unbändigen (Überlebens-)Willen - auch oder gerade - in schwierigen Zeiten.

Das Buch wurde am 24. Februar 2017 im Ullstein-Verlag veröffentlicht. Es überzeugt als kleines Hardcover mit einem griffigen Schutzeinschlag und einem Lesebändchen und ist zudem hochwertig verarbeitet.
Mit dem Titel konnte ich zu Beginn nicht wirklich viel anfangen. Aber NACH dem Lesen passt er perfekt und bekommt eine symbolhafte Bedeutung für die Geschichte. Das Cover selbst ist unaufdringlich und überzeugt eher durch die Anordnung der Schrift und mit seiner wunderschönen Farbgestaltung als durch die Abbildung, die Bäume, Büsche oder Gräser vermuten lässt.


Fazit:
Ein wortgewaltiger, berührender Roman über das Älterwerden, über verratene und neugeknüpfte Freundschaft, über die Sehnsucht und die unerschütterliche Liebe zu den Eltern, dem Partner und der Heimat und den eigenen Wurzeln. Meine absolute Leseempfehlung.