Entwurzelt …

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herbstrose Avatar

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Tag für Tag fällt es dem 80jährigen Erich schwerer, die täglichen Aufgaben des Alltags allein zu bewältigen. Einzig an seinen geliebten Bäumen, seinem Wald, den er heimlich und verborgen von allen Blicken im Schlafzimmer seiner Wohnung gezüchtet hat, hat der Professor für Geologie und ehemalige Experte für Permafrost noch Interesse. Er vermisst seine Arbeit in Sibirien und besonders seine Frau Dascha, die er dort kennen und lieben gelernt hat. Durch die gelegentlichen Kontrollbesuche seiner Tochter Irina fühlt er sich bevormundet und in seiner Freiheit eingeschränkt. Als nun in die leer stehende Wohnung nebenan die 17jährige Ausreißerin Katharina einzieht, entwickelt sich zwischen den beiden ungleichen Nachbarn eine freundschaftliche Zweckgemeinschaft. Auch Katharina sehnt sich nach Sibirien, nach ihrem Vater, der dort irgendwo arbeitet …

„Betrunkene Bäume“ ist der Debütroman der jungen Autorin Ada Dorian, die bereits 2009 den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg gewann, Trägerin des Literaturstipendiums des Landes Niedersachsen 2016 ist und für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2016 nominiert war – und das zu Recht. Ihre Texte sind schwer und intensiv, schreibt NDRkultur. Über sich selbst meint Dorian, sie sei kein Fan der Heiterkeit und würde sich selbst als optimistische Melancholikerin bezeichnen. „Ich glaube, dass meine Texte ganz viel Mut machen, aber inhaltlich rückwärtsgewandt sind und sehr nachdenklich. Sie werden in meinen Texten keine Explosionen und keine Witze finden.“

Der Buchtitel klingt zunächst seltsam, hat aber durchaus seinen Sinn. Wie bei Wikipedia nachzulesen, verlieren die Bäume im tauenden Permafrost ihren Halt und geraten in Schieflage, was allgemein „betrunkene Bäume“ genannt wird. Das Cover dazu ist sehr passend und regt zum näheren Hinsehen und Zugreifen an. Der Schreibstil ist sehr schön und trotz seiner Sachlichkeit beinahe poetisch. Es herrscht ein leicht melancholischer Grundton, der zu der zutiefst berührenden Geschichte ausgezeichnet passt, der aber nie rührselig oder sentimental ist. Man erlebt den Alltag eines alten Menschen, ungeschönt und ehrlich.

Die Charaktere sind sehr lebensnah geschildert, auch wenn man ihre Handlungsweise nicht immer nachvollziehen kann. Jeder hat Probleme, jeder hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen und jeder versucht auf seine Art, damit umzugehen. Perspektive und Zeit wechseln mit jedem Kapitel, Rückblenden in Erichs früheres Leben sind geschickt eingefügt. Dies lockert zwar die Geschichte auf, verlangt aber vom Leser ein erhebliches Maß an mitdenken. Nach und nach entwickelt sich die ganze Komplexität des Geschehens, bis sich zum Ende alle Handlungsstränge zum harmonischen Ganzen zusammen fügen.

Fazit: Ein ruhiges, poetisches Buch – sehr empfehlenswert!