Wie wächst man, wenn der Halt im Leben fehlt?

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corsicana Avatar

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"Betrunkene Bäume" findet man in der Taiga. Sie verlieren ihren Halt, wenn der Permafrostboden zu sehr auftaut und die darin fest gefrorenen Wurzeln ihren Halt verlieren. Die Bäume kippen dann zur Seite - und versuchen, dieses Kippen aufzufangen, in dem sie seitlich in die Höhe wachsen. Der Stamm dieser Bäume ist daher nicht gerade sondern weist Biegungen auf.

Und auch die Protagonisten in diesem Roman verlieren ihren Halt im Leben. Da ist die junge Katharina, die kurz vor dem Abitur von Zuhause weg läuft und auch die Schule nicht mehr besucht. Ihr Vater hat die Familie verlassen und eine Stelle in Sibirien angenommen. Und Sibirien ist auch der Sehnsuchtsort von Erich, einem ehemaligen Wissenschaftler, der die Bäume liebt - und seine Frau, die er in Sibirien kennengelernt hatte. Inzwischen aber ist Erich alt und kann sich kaum noch auf den Beinen halten und verbringt seine Tage mit Gedanken an seine Vergangenheit und an Sibirien, wo er sein Herz verlor, an die Bäume dort - und an seine große Liebe.


Der Teil des Romans, der in der Vergangenheit in Sibirien spielt, hat mich am meisten beeindruckt, diese Beschreibungen der Landschaft, der Kälte und des harten Lebens dort, geschrieben in einer klar-präzise-beschreibenden Sprache. Aber auch der Rest des Romans, der in der Gegenwart spielt, war sprachlich ausgereift und war passend zur melancholischen Grundstimmung, die sehr berührt - und auch Platz für Hoffnung lässt.
Lediglich der Schluss des Buches erschien mit unausgereift und zu kurz, von Katharina hätte ich gerne mehr gelesen.

Dies ist der erste Roman von Ada Dorian, der in einem Verlag erscheint. Sie hatte es mit diesem Text in die Nominierungsrunde für den Bachmann-Preis geschafft. Gewonnen hat sie nicht - aber das kann noch kommen. Dieser Roman zeigt jedenfalls ein großes Schreibtalent.