Realitätsflucht einer Familie

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ryria Avatar

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Der Roman ist in zwei Erzählstränge unterteilt, die sich durchgehend abwechseln: In der Gegenwart im Jahre 1983 entdeckt Daniel, dass seine Eltern so ziemlich pleite sind, obwohl er mit seinen drei Geschwistern bisher ein recht angenehmes Leben geführt hat - und das wollen sie trotz Gerichtsvollzieher eigentlich auch jetzt nicht aufgeben. Während diese Verdrängung der Realität immer weiter fortschreitet und immer mehr nicht vorhandenes Geld ausgegeben wird, erfährt man in den Begleitkapiteln die Familiengeschichte der Großeltern und Eltern. Wie sind sie aufgewachsen, was hat sie zu den Menschen gemacht, denen wir in der Gegenwart begegnen?
Diese Kapitel haben mir noch besser gefallen als die Handlung rund um Daniel, jeder Charakter hat hier viel Kontext bekommen und man konnte ihr Verhalten besser einordnen, auch wenn ich oft darüber den Kopf geschüttelt habe.

Generell haben mich die Charaktere auch öfters mal ein wenig aufgeregt, quasi nach dem Motto "Warum machen die das, das ist doch unverantwortlich!". In diesem Sinne fand ich sie aber auch wieder recht authentisch dann, Menschen die dumme Entscheidungen treffen oder sonstige Fehler haben sind im Grunde ja oft realistischer als diejenigen, die perfekt jede Krise managen.
Auch gut gelungen war die Darstellung der 80er Jahre: Alltag, Musik, Kleidung, Spekulationen über die DDR, all dies wirkte auf mich sehr authentisch, auch wenn ich es selber nicht miterlebt habe (ältere Teilnehmer einer Leserunde haben diesen Eindruck jedoch bestätigt).

Schade fand ich, dass ich trotz der vielen Hintergrundgeschichten keine richtige emotionale Beziehung zu den Charakteren aufbauen konnte. Ich habe ihre Geschichte als distanzierte Betrachterin gerne verfolgt, aber nie wirklich mitgefiebert.
Stilistisch gesehen war es angenehm zu lesen mit ein paar schönen Spielereien, so passiert z.B. etwas in der Gegenwart und in der folgenden Rückblende werden die Anfänge davon dargestellt. Auch die Verwendung von französischen Vokabeln zur Beobachtung der Gesellschaft und den eigenen Erlebnissen fand ich eine coole Idee.