Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies

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Diese Rezension beginnt mit dem ersten Eindruck. Der erste Eindruck ist entscheidend. Bei Covern ist es meist so, dass sie eine Art bildhafte Zusammenfassung des Inhalts sind. Bei Menschen ist es so, dass der erste Eindruck oft nicht stimmt. "Looks can be deceiving." Meist ist nichts so, wie es zunächst scheint.
Das Cover von "Bittersweet" passt gut zu seinem Inhalt. Hier wird eine zwielichtige Stimmung eingefangen. Irgendwie wirkt die Atmosphäre bedrohlich. Da steht ein hübsches Haus am See, aber der Betrachter spürt, dass bald etwas passieren wird.Und dann bleibt der Blick beim "süß" wirkenden Schriftzug des Titels hängen. Bitter (der bedrohlich wirkende Augenblick) und Sweet (die hübsch verschnörkelte Schrift).
Dann liest der Leser den ersten Satz. "Bevor sie mich hasste, bevor sie mich liebte wusste Genevra Katherine Winslow nicht, dass ich überhaupt existierte." Und schon ist man in der Geschichte gefangen. Was ist passiert, dass solche intensiven Gefühle aus einem anfänglichen Ignorieren entstehen ließ? Hass und Liebe. Kontraste, die aufeinander prallen.
Wie diese zwei Frauen. Man hat sofort das Gefühl, dass auch die beiden Frauen bitter und süß sind. Mabel ist süß naiv. Ev ist bitter und traurig. Obwohl Ev reich ist und eigentlich alles hat, hat ihr die Welt nicht gut getan. Ihr Cousin hat sich erschossen. Viele Kontraste bilden den erste Eindruck und bauen eine Spannung auf.
Der Mensch sehnt sich nach dem Paradies. Nach dem Perfekten, dem Idyllischen. So auch Mabel. Für sie ist dieses Perfekte in der Familie ihrer Zimmergenossin Ev verkörpert. Ev und die Familie Winslow leben in einer Idylle, die sich Winloch nennt. Doch der Schein trügt.

"Traue niemandem." (S. 176)

Mabel liest während ihres Aufenthalts in Winloch John Miltons "Das verlorene Paradies". Zumindest versucht sie es, denn sie kann sich nicht richtig darauf konzentrieren und der Text ist ihr zu schwer. Doch das Buch ist ein Sinnbild für die Geschichte, die die Autorin hier erzählen möchte.

"Natürlich wusste ich, dass Adam und Eva keine Sorgen und keine Scham kannten, bevor sie in den Apfel bissen. Ich wusste, dass der Sündenfall darin bestand, dass sie vom Baum der Erkenntnis aßen. Ich wusste dass Gott sie deswegen aus dem Paradies vertrieb. Und dass wir die Nachgeborenen, deswegen keinen Zugang mehr zum Garten haben. (...) Nie können wir vergessen. Doch es gibt kein Zurück." (S. 191)

So ist das auch mit dem ersten Eindruck. Der Mensch hat ein perfektes Bild von seinem Gegenüber, erträumt sich eine perfekte Idylle. Doch der erste Eindruck täuscht. Es passiert etwas, das Perfekte verschwindet und die Realität enttäuscht. Man wünscht sich, man hätte die Realität nie gesehen. Doch es gibt kein Zurück mehr. Was passiert ist, ist passiert.

Miranda Beverly- Whittemore beherrscht das "showing" in einem faszinierenden Ausmaß. Das bedeutet, dass viel zwischen den Zeilen passiert. Man kann dieses Buch wie eine leichte Sommerlektüre lesen. Aber das Buch bietet so viel mehr, wenn man sich darauf einlässt und darüber nachdenkt. Das hier ist ein niveauvoller Roman.
Unter anderem wirkt die Geschichte dadurch realistischer, dass dem Leser nicht alles direkt erzählt wird. Man muss über das Gelesene nachdenken. Vieles steckt unter der Oberfläche. Wie bei einer perfekten Familienidylle.
Figuren sind hier auch nicht durchgehend sympathisch, denn sie haben ihre Stärken und Schwächen. Man gewinnt einige Personen lieb und schreckt dann vor ihnen zurück, weil einen ihre Handlungsweise enttäuscht. Der erste Eindruck passt nicht mehr.
"Bittersweet" ist ein leicht zu lesender, sehr spannender Roman über die Tiefen und Untiefen der menschlichen Seele. Mir kam beim Lesen in den Sinn, dass es sich hier um eine Art Game of Thrones meets Rosamunde Pilcher Mischung handelt (mehr Rosamunde Pilcher). Wer verzwickte Liebesgeschichten und malerische Gegenden mag und wen die menschliche Psyche fasziniert, für den ist dieses Buch sehr empfehlenswert.