Wo fängt die Realität an?

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simone1711 Avatar

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Ich habe länger als erwartet gebraucht um das Buch zu lesen, und nun auch einige Tage um eine Rezension zu schreiben, weil ich mich nach der Lektüre von "Blaue Augen" hin- und hergerissen fühle. Mit Sicherheit kann ich nur sagen, dass ich etwas Vergleichbares noch nie gelesen habe.

B.B., ein Mann mittleren Alters, lebt noch mit seiner bevormundenden Mutter zusammen. Er hat durch sie eine traumatische Kindheit erlebt, war sie doch als alleinerziehende Mutter von drei Jungen komplett überfordert und außerdem beseelt von dem Wunsch, ein Genie heranzuziehen. Im Grunde gibt es wohl nicht halb so viele außergewöhnlich begabte Kinder wie krankhaft ehrgeizige Mütter, doch an B.B. ist tatsächlich etwas besonders: Seine Sinne verbinden sich miteinander, so dass er mit Worten bestimmte Farben und Gerüche assoziiert. Besonders besessen ist er von der Farbe Blau, und nennt sich in seinem Internet-Blog dementsprechend Blauauge. Hier lässt er seiner Fantasie freien Lauf, berichtet über Morde, die er begangen haben will, doch beim Weiterlesen stellt sich heraus, dass die Personen alle noch leben, bis auf seine zwei Brüder, die unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen. Was er damit zu tun hat - man hat das Gefühl, sich der Wahrheit immer in kleinen Schritten zu nähern, wird aber jedes Mal unvermittelt zurückgerissen. Seine Leser sind entweder begeistert von seinen Geschichten oder aber beschimpfen ihn, so dass man das Gefühl hat, dass zumindest einige mehr über ihn wissen. Klar ist nur, dass er mit allen Personen, die er in seinen Erzählungen kaltblütig umbringt, eine Rechnung offen zu haben scheint. Ganz besonderer Hass gilt seiner Mutter, für die er eine Scheinwelt erschaffen muss: Er hat einen sehr guten Job und ist nach dem Tod seiner Brüder der einzige, der ihr noch geblieben ist, so dass sie ihre erdrückende Liebe komplett auf ihn abwälzt, ihn kontrolliert, und ihm immer einen Schritt voraus zu sein scheint.

Die Geschichte selber ist genial konstruiert. Ein riesiges Spinnennetz aus Verwicklungen und Zusammenhängen, das manchmal zu fantastisch klingt, um möglich zu sein. Doch der Kern der Geschichte ist verblüffend simpel. Was Schreibweise, Stil und Ideenreichtum anbelangt, müsste man diesem Buch auf jeden Fall 5 Sterne geben. Man hat Mitleid mit den drei Jungs, so unsympathisch sie dargestellt sind, weil sie dieser Mutter ausgeliefert sind. Die ersten drei Viertel des Buches fand ich absolut gelungen und konnte das Buch auch kaum beiseite legen. Aber es ist einfach zu verwirrend und viel zu viel. Es werden so viele Themen angeschnitten, dass man am Schluss nicht weiß, was einem dieses Buch eigentlich sagen will. Geht es um Misshandlung, Missbrauch, ein speziell begabtes und verkanntes Kind? Um eine fatale Mutter-Sohn-Beziehung? Um die Verantwortung des einzelnen in der Gesellschaft? Den Idenitätswechsel der Protagonisten fand ich zwar sehr unerwartet, aber auch unnötig. Vielleicht wüsste ich sogar, worum es in diesem Buch wirklich gehen soll, wäre das Ende nicht so plump und unglaubwürdig gewesen.

Fazit: Keinesfalls ein schlechtes Buch, aber man braucht einen sehr freien Kopf dafür.