Jeder sieht, was er sehen will

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Der bekannte Schriftsteller Kunihiko Hidaka war offenbar kein einfacher Zeitgenosse. Mit der Nachbarin liegt er im Streit um deren Katze, und in einem seiner Romane soll er gegen die Persönlichkeitsrechte verstoßen haben. Kurz vor seiner Abreise zu einem längeren Auslandsaufenthalt wird Hidaka von seinem Jugendfreund Osamu Nonoguchi in einem verschlossenen Raum ermordet aufgefunden. Wer verfügte über ein Motiv, die Gelegenheit, eine Tatwaffe? – Außer Hidakas Ehefrau verdächtigt die Polizei auch Nonoguchi der Tat. In der Ichform liefert Nonoguchi seinen penibel beobachteten Bericht der Geschehnisse ab. Hidakas Schriftstellerkollege scheint ein perfekter Zeuge in einem fast perfekten Verbrechen zu sein. Nonoguchis Protokoll gibt Einblick in die Beziehung zwischen zwei unterschiedlich erfolgreichen Schriftstellern und zeigt dabei jene fein austarierten Hierarchien von Herkunft und gesellschaftlichem Status, die für die sozialen Beziehungen in Japan so wichtig sind. Ebenfalls schriftlich und in Ichform nimmt der Ermittler Kyochiro Kaga den intellektuellen Wettstreit mit seinem vorgeblichen Bilderbuchzeugen Nonoguchi um die Lösung des Falls auf. Der Ermittler und sein Zeuge kennen sich bereits seit ihrer Schulzeit. Beide waren früher Lehrer, beide haben in der Lebensmitte ihren Beruf gewechselt. Auf der Suche nach Tatmotiv und Beziehungsmuster liest sich Kaga geduldig durch Hidakas Buchmanuskripte und befragt Zeugen aus dessen Jugend. Jeder Zeuge hat seine eigene Sicht der Dinge und mancher will das Offensichtliche nicht mitbekommen haben. Mit jeder notierten Zeugenaussage hat sich meine Einschätzung des Falls geändert. Hidaka gelangt schließlich zu gewaltigen Emotionen vergangener Zeiten, die bei der Tat zum Ausbruch gekommen sind.

Durch die in dem Fall benutzten schon etwas älteren Gegenstände (Disketten, Telefonschnur) wirkt Higashinos Kriminalroman wie ein Klassiker der Kriminalliteratur, wie auch durch Kagas unspektakuläre Ermittlungsmethoden. Higashinos in ihrer Schlichtheit raffinierte Erzählweise, die zwischen der Sicht des Ermittlers und seines Verdächtigen wechselt, hat mir ausnehmend gut gefallen.