Wer nicht genießt, wird ungenießbar...

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angie99 Avatar

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Der Einstieg in das Buch fiel mir nicht leicht. Rika besucht ihre Freundin Reiko, die mit ihrem Mann Ryosuke in ein neues Häuschen umgezogen ist. Der Abend plätschert dahin mit dem Austausch von Höflichkeiten und Dialogen über ausverkaufte Butter, Reikos Kinderwunsch, rassistische Kinderbücher und eine angeblich liebhabermordende, dicke Frau, die Rika gerne interviewen würde. Zwischen die Gesprächsfetzen werden erklärende Informationen über die jeweiligen Hintergründe geklemmt, was für ein ziemlich holperiges und zugleich anstrengendes Leseerlebnis sorgt. Und: Hilfe, wie kann man bloß diese gleichklingenden Namen unterscheiden? Mein Hirn drehte sich vor lauter R’s und k’s…

Erst als die Reporterin Rika schließlich die Gelegenheit bekommt, die medienscheue Manako Kajii im Gefängnis zu besuchen, wird es interessant. Diese besteht darauf, nur über Essen und Rezepte zu plaudern. „Wenn Sie mich nochmals besuchen wollen, müssen Sie mir versprechen, nie wieder Margarine zu essen. Ich pflege nur Umgang mit Menschen, die das Echte schätzen.“ (S. 35) Die sich bisher nur von kleinen Snacks aus Konbini oder Supermarkt ernährende Rika kocht sich darauf das erste Mal Reis mit Butter und Sojasauce. „… schon bald umhüllte, wie von Kanjii vorausgesagt, geschmolzene Butter jedes Reiskorn und erzeugte ein Aroma, das nicht anders als golden zu beschreiben war. Eine goldglänzende, würzige, in ihrer Reichhaltigkeit überschäumende Woge aus Duft und Geschmack schlug über Rika zusammen, überschwemmte sie, riss sie mit sich fort.“ (S. 38) Begeistert von diesem Geschmackserlebnis lässt Rika sich von Kanjii zu weiteren Experimenten hinreißen, die zu sinnlichen Ausflügen ins Reich des Genusses werden und auch geneigten Leser:innen das Wasser im Mund zusammen laufen lassen.

Doch halt! „Butter“ könnte nun zu einer Art Hollywoodstreifen werden, in der eine zielstrebige, aber fade Journalistin sich zu einer enthusiastischen Genießerin entwickelt, gleichzeitig das Geheimnis um die Männermorde löst, ein enthüllendes Interview mit der Angeklagten veröffentlicht, das reißenden Absatz findet – und glücklich lebt bis ans Ende ihrer Tage.
Diesen Gefallen tut uns die Autorin jedoch nicht.

Sie leuchtet auf viel komplexere Weise die Verknüpfungen zwischen Essen und Gesellschaft aus. „Die Mutter eines Schülers, der nach einer Prügelei mit einem anderen Jungen gestorben war, war in die öffentliche Kritik geraten. (…) Es hieß, diese Tragödie sei durch den zunehmenden Verfall traditioneller Essgewohnheiten verursacht worden.“ (S. 157)

Jede von Kanjiis Aufgaben schenkt Rika nicht nur neue Einblicke in die Welt der Aromen und Gerüche, sondern wird zu einem Spiegel für verschiedene Lebenseinstellungen und gesellschaftliche Dysbalancen: Schlankheitswahn, Un-Vereinbarkeit von Kind und Arbeit, Frauenfeindlichkeit, beruflicher Druck, Einsamkeit. Dabei liefert die Autorin keine Instant-Lösungen, sondern vielmehr ein ganzes Bündel an Gedankenanstößen, welche verschiedene Sichtweisen beleuchten. So zeigt sie zum Beispiel: Genuss ist ein Stück Lebensqualität, aber Genuss ist auch egoistisch. „Gourmets waren im Prinzip Suchende. Sie waren Tag für Tag mit ihren Bedürfnissen beschäftigt und auf Entdeckungsreise. (…) Der Grund, aus dem alle Mütter dieser Welt sich mit der täglichen Nahrungsaufnahme abmühten, war nicht ihr eigenes Bedürfnis nach Essen. Was sie antrieb, war der Gedanke an ihre Familie.“ (S. 181)
Dieses Buch benötigt also ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit, um in dieser Fülle an Geschmäckern und Meinungen nicht den Faden zu verlieren, belohnt dafür aber mit einer Vielzahl an Eindrücken.

Was mit Rika und einem Stück Butter anfängt, zieht bald größere Kreise und hat Auswirkungen auf ihre Freundschaft mit Reiko, die Beziehung zu ihrem Freund Makato, die Erinnerungen an ihren Vater, ihre Einstellung zur Arbeit und ihre Kollegen. Einige dieser Hinweise finden sich schon im scheinbar zusammenhangslosen Geplänkel des ersten Kapitels, das sich im weiteren Verlauf als wichtiges Puzzleteil herausstellt.

Rika ist eine relativ farblose und austauschbare Persönlichkeit, was jedoch die japanische Maxime, nicht aufzufallen, verdeutlicht. Dafür macht sie eine starke Entwicklung durch. Diese verläuft nicht in einer stetigen Spannungskurve nach oben, sondern erfährt Rückschläge, Brüche und Umwege erfährt, was sie in meinen Augen greifbar und authentisch macht.

Diese persönlichen und zwischenmenschlichen Entwicklungen zu verfolgen war für mich: purer Lese-Genuss!

„Weich und glatt verteilte sich die Butter überall auf dem Fleisch, als würde sie davon aufgesogen. Sie hob den Truthahn mit beiden Händen in die Aluminiumschale, stellte sie auf das Backblech und öffnete den Backofen. Die blauen Flämmchen darin erinnerten sie an einen Feuerring im Zirkus, und sie musste durch ihn hindurchspringen. Rika hatte das Gefühl, mit Beifall begrüßt zu werden.“ (S. 429)

Allen, die nicht vor ausführlichen Beschreibungen buttriger Speisen zurückschrecken und sich gerne mit – sehr japanisch gewichteten, teilweise aber auch universellen – gesellschaftlichen Phänomenen auseinandersetzen, sei dieses Buch wärmstens empfohlen!