Lässt mich als Erwachsene bekommen zurück

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ichgebäre Avatar

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Worum geht es?
Der neunjährige Oscar ist mit seinen Eltern auf einer Segelyacht im Mittelmeer unterwegs. Er befürchtet den langweiligsten Sommerurlaub seines Lebens.
Doch dann wird ihre alte Hündin Lucy auf zwei Flüchtlingskinder im Meer aufmerksam. Ohne zu zögern rettet Oscars Vater die beiden. Nach der ersten Hilfe setzt bei den Eltern jedoch die große Verunsicherung ein: Was sollen sie mit den beiden Kindern nun anstellen?
Die Geschichte bewegt sich auf zwei Ebenen: Einerseits geht es um die Annäherung der beiden Flüchtlingskinder Nala und Moh mit Oscar und seinen Eltern. Andererseits geht es um den Zwiespalt, in dem sich die Eltern befinden: Lassen sie zu, dass sich ihr Leben durch die Rettung der Kinder langfristig verändert? Oder lehnen sie die Verantwortung nach der unmittelbaren Rettung ab?
Im Laufe der Geschichte fährt die Familie verschiedene Häfen in verschiedenen Ländern an. Sie erfahren verschiedene Grade der Ablehnung. Grundsätzlich will sich keine Behörde für die Kinder zuständig fühlen. Von Griechenland über Italien segeln sie nach Mallorca. Dort schließlich bestünde eine Aufnahmemöglichkeit für die beiden Kinder. Allerdings haben die vergangenen Wochen bei allen Beteiligten Spuren hinterlassen. Die geplante Übergabe an die spanische Sozialarbeiterin bringt Oscar dazu, die Initiative zu ergreifen. Er flieht mit Nala, Moh und Lucy.
[Wer nicht wissen will, wie es ausgeht, liest den folgenden Abschnitt nicht.]
Als sie mit einer verletzten Lucy und vollkommen ausgehungert schließlich zurückkehren zu Oscars Eltern, treffen diese eine weitreichende Entscheidung: Sie werden Nala und Moh auf dem Landweg nach Deutschland bringen und dafür sorgen, dass die Kinder bei ihnen bleiben dürfen.

Meine Meinung
Ich war gespannt wie ein Flitzebogen. Ein Kinderbuch zum Thema Flucht und Vertreibung? Das letzte Buch, in dem das Thema zumindest auftauchte, war 2,5 Grad – ein Buch für Erwachsene, das mich daran erinnerte, dass hinter all den Zahlen Menschen stehen. Nun also ein Kinderbuch. Wie würde das Thema aufgegriffen werden?

Nach den ersten Seiten war ich sehr angetan und dieses Gefühl zog sich durch das gesamte Buch. Grundsätzlich wird aus Oscars Perspektive erzählt. Dadurch gelangt die Geschichte vom Abstrakten zum Konkreten. Das tat mir als Leserin sehr gut. Außerdem bleibt die Geschichte auch in der Gegenwart verwurzelt. Oscar macht sich wenig Gedanken um die Folgen seines Handelns. Natürlich kann er kurzfristige Folgen absehen. Dennoch liebt er es, im Moment zu leben. Das verbindet ihn mit den geretteten Kindern.

Mit seinen neun Jahren akzeptiert Oscar die Ausflüchte und Regeln der Erwachsenen nur bedingt. Wenn er fragt, warum sie Nala und Moh nicht mit nach Hamburg nehmen sollten, antworten seine Eltern mit „das geht doch nicht“. Oscar dagegen überlegt ganz konkret, was daran nicht gehen würde. Er stellt fest: Doch, das geht. Es ist zu lösen.

Als er merkt, dass seine Eltern ihm nicht alles erzählen, wird er misstrauisch. Er hat Nala und Moh liebgewonnen und schwankt mit sich selber, ob seine Eltern, mit denen er sich grundsätzlich gut versteht, tatsächlich so anderer Meinung sind als er.
Da die Geschichte aus Oscars Sicht erzählt wird, gibt es mehrere Situationen, in denen Oscar seinen Eltern zuhört und das Gehörte nur kurz zur Kenntnis nimmt. Mich als erwachsene Leserin dagegen haben manche dieser Kommentare aus dem Mund von Oscars Mutter oder Vater sehr nachdenklich gemacht.
Schön gelöst finde ich die optische Trennung zwischen Oscars Erzählperspektive einerseits und den Dialogen zwischen Nala und Moh andererseits. Die kurzen Dialoge zwischen Nala und Moh sind kursiv gedruckt.

Eine kleine sprachliche Anmerkung noch: Es kommen im Buch ein paar Begriffe aus dem Segeljargon vor. Für das Verständnis des Buches sind sie aber nicht relevant. Verwirrender fand ich, dass durchgehend von „kucken“ statt „gucken“ die Rede ist. Erst eine kurze Internetrecherche machte mich Binnenländerin darauf aufmerksam, dass dies norddeutsche Mundart ist.
Eine der besten Stellen im ganzen Buch ist aus meiner Sicht, als Oscars Mutter mit Oscar, Nala und Moh ein Museum besucht. Nala ist fasziniert von den ausgestellten Statuen. Ehrfürchtig berührt sie eine Statue. Der Museumswachmann wird daraufhin laut und macht Nala und Oscars Mutter zur Schnecke. In diesem Moment platzt Oscars Mutter die Hutschnur:
Der Mann meckerte weiter und Mama explodierte. Sie schrie auf Englisch los, dreimal so laut wie der Museumswärter. Oscar verstand kein Wort und auch der Museumswärter kuckte irritiert. Aber dass Mama der Geduldsfaden gerissen war, daran gab es keinen Zweifel. […] Tut mir leid, Kinder“, seufzte sie. „Aber ich bin es einfach nicht gewohnt, jeden Tag von irgendeinem Wachtmeister runtergeputzt zu werden. Das muss anders werden!“ [Seite 43]

Dieser Satz zeigt eindrucksvoll, dass wir als Menschen, die zur Mehrheitsgesellschaft gehören, eben nicht wissen, wie es sich anfühlt, nicht dazuzugehören. Wir können es nicht nachempfinden. Wir können es vermuten, wir können darüber lesen, wir können uns unserer Privilegien bewusst sein. Aber wir wissen nicht, wie es sich anfühlt.

Oscars Mutter wird im Buch aus einer willkommenen Urlauberin aus Deutschland zu einer Ausgestoßenen. Sie hat Flüchtlingskinder dabei. Obwohl sie nach wie vor weiß, wohlhabend, gesund und legal im Land ist, ändert sich ihr sozialer Status. Sie ist – wegen ihrer Begleitung – gerade ungewollt. Und während die Kinder das bereits von ihrer Flucht gewohnt sind, ist es für Oscars Mutter eine vollkommen neue Erfahrung. Sie akzeptiert ihre Statusänderung nicht. Nala und Moh dagegen haben schon lange akzeptiert, dass sie von anderen herumgeschubst werden. Für diese Rezension habe ich die Stelle nochmal gelesen. Beim zweiten Lesen wird sie noch eindrücklicher. „Das muss anders werden“ habe ich nun auf die große politische Diskussion, auf die europäische Flüchtlingspolitik, auf unser Gefühl von Gerechtigkeit und Verantwortung für einander bezogen. Das muss anders werden.


Im Buch geht es um das persönliche Schicksal zweier Flüchtlingskinder und einer deutschen Familie. Es geht aber auch um politische Strukturen, in denen manche versuchen, die Verantwortung anderen zuzuschieben. Oscars Eltern schieben die Verantwortung an die Behörden. Hafenmeistereien leiten an Polizeistationen oder Krankenhäuser weiter, kleine Kommunen wollen lieber größere agieren lassen, ein Land schickt Menschen weiter zum nächsten. Klar ist es zu verstehen, dass die Länder an den EU-Außengrenzen die wesentlich höhere Belastung nicht länger tragen wollen. Und auch die einzelnen Menschen sind durchaus zu verstehen, wenn sie einfach nicht mehr können und sich eine harte Schale zugelegt haben. Als Resultat nutzen sie dann alle rechtlichen Optionen, um nicht zuständig zu sein. Es wäre wiederum ein Zeichen von „privplaining“*, ihnen das zum Vorwurf zu machen.
* Das Wort „Privplaining“ habe ich mir gerade ausgedacht. Ich meine damit den Umstand, wenn eine privilegierte Person einer nicht privilegierten Person gewisse Verhaltensweisen zum Vorwurf macht, ohne die konkrete Situation dieser Person zu berücksichtigen. Wenn du mehr zu diesem Thema, gerade in Bezug auf Rassismus, wissen möchtest, empfehle ich das Buch „Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“ von Reni Eddo-Lodge.

Fazit
Das Buch ist einfühlsam geschrieben. Oscar überblickt mit seinen 9 Jahren noch nicht alle Zusammenhänge. Er spürt aber, dass seine Eltern nervös werden. Wie er, Nala und Moh sich langsam besser kennenlernen wird sehr realistisch erzählt. Es gibt immer wieder Rückschläge.

Die Geschichte endet angemessen für ein Kinderbuch. Wie realistisch das Ende ist, hängt von uns allen ab: Was würden wir tun? Würden wir die Kinder mitnehmen? Würden wir auf rechtliche Vereinbarungen pochen und offizielle Stellen in die Verantwortung nehmen? Wo bleibt unsere persönliche Verantwortung?

Calypsos Irrfahrt ist ein Kinderbuch. Es spart so manche Härte aus; es hat ein Happy End. Die Autorin macht allerdings sehr deutlich, dass dieses Happy End nicht selbstverständlich ist. Es kommt nur zustande, weil sich die Erwachsenen ihrer Verantwortung stellen. So ließ mich das Buch leicht beklommen zurück: Wie hätte ich gehandelt?