Zwischen Kopfschütteln und Mitgefühl

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skaramel Avatar

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Tokio Hotel ist so womöglich jedem ein Begriff und hat schon immer polarisiert. An mir ist die Band ehrlich gesagt ziemlich vorbei gegangen. Wirklich geprägt haben mich nur zwei kleine Momente, in denen ich nicht ganz verstanden habe, woher der ganze Hype kam und wer eigentlich genau „Tokio Hotel“ waren.
Erstmalig nahm ich die Band war als ich selbst Abitur machte und die Aufsicht für eine Unterstufenparty übernahm. Als „Durch den Monsun“ gespielt wurde, brachen kleine Teenie-Mädels weinend zusammen, während die Jungs lautstark buhten. So ganz hatte ich da noch nicht verstanden, was da auf einmal passierte. Gleichzeitig war ich ein paar Wochenende später auf einem kleinen Dorf-Festival, vor allem für einen alternativen Act und der Chance mit meinen Freunden eine Flasche Weinbrand-Cola auf das Gelände zu schmuggeln.
Auf der Hauptbühne, die ich nur aus der Ferne wahrnahm, spielte Tokio Hotel das Konzert, wo sie nach drei Liedern abbrechen mussten, weil die Massen gegen die Banden drückten. Wir haben davon kaum etwas mitbekommen.
Jahre später sitze ich also hier, lese die Biografie von Bill Kaulitz und verstehe erst jetzt, was da damals überhaupt so richtig passiert ist. Warum sein Buch nun auf meinem Nachttisch liegt, hat mehr mit den positiven Stimmen zu tun als mit meinem generellen Interesse an Bill oder der Band. Ehrlich gesagt war ich eher irritiert wieso man mit jungen 30 Jahren überhaupt schon Biografien schreiben muss. Das Warum war mir nach den ersten hundert Seiten doch sehr schnell klar. Wer so viel in so kurzer Zeit erlebt, der braucht mehr Seiten, mehr Bücher, mehr Platz. Jedoch ist genau das, was die Biografie am Ende so lesenswert macht. Auch für Nicht-Fans oder neutrale Leser. Bill ist eine interessante Persönlichkeit, der für fünf Leben gelebt hat und viel zu erzählen hat. Wie er erzählt, ist absolut mitreißend und gutgeschrieben. Viel Witz, viel Leichtigkeit, obwohl er auch nicht ganz so gerne zurückschaut.
Vielleicht ist auch genau das, was mich an manchen Stellen hadern lässt. Tokio Hotel hatten es nicht leicht. Sie haben polarisiert und mussten mit viel Kritik umgehen. Dass die Band damals selbst noch in den Kinderschuhen stand, hat man womöglich oft vergessen. Denn den ganzen Hass und die Ablehnung haben die damals noch so jungen Bandmitglieder schonungslos abbekommen. Dadurch wirkt Bill rückblickend oft verbittert, verhärmt und arg scharf. Auch seinen Fans gegenüber, die natürlich tausend Grenzen überschritten haben und ihr Verhalten mit nichts rechtfertigen ist. Jedoch ist seine Stimme gegen die Hater laut, aber gegen die „Hardcore“-Fans genauso. Ist man also ein solcher Fan gewesen, muss man eventuell ganz stark durchatmen, wenn man sich selbst als picklig, klein und kreischend auf den Seiten wiederfindet. Denn wenn Bill eins tut, dann alle über einen Kamm scheren. Vieles ist schlecht gewesen und das in voller Breitseite. Die Kindheit im Osten, die manchmal so klingt als hätte er in den Fünfzigern und nicht in den Neunzigern gelebt. Die Fans, die alle zu drüber waren. Die Hater, die alle böse waren. Die Plattenbosse, die alle nur das Schlimmste wollten. Natürlich war das alles so, trotz allem ist die Ansicht doch sehr drüber und sehr generalisierend. Gleichzeitig merkt man wie groß das Ego der Kaulitz-Brüder einfach ist. Sie waren damals schon zu schlau, zu cool und allen überlegen. Das merkt man in der Schule, in der Band, im Umgang mit allen anderen Menschen. Bill fordert pausenlos mehr Verständnis, mehr Gefühl und mehr Zeit für sich. Gleichzeitig räumt er dies seinem Gegenüber, wenn es nicht sein Bruder ist, kaum ein.
Das macht das Lesen des Buches teilweise recht schwierig, auch wenn es wahnsinnig spannend ist und man sich wie ein kleiner Voyeur fühlt. Mitgefühl und Kopfschütteln verschwimmen da relativ häufig miteinander, trotz allem eine gute Unterhaltung.