Grandiose Figurenentwicklung

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jacquy Avatar

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Seit ich "The seven husbands of Evelyn Hugo" gelesen habe, war mir klar, dass ich auch alles andere aus der Feder der Autorin lesen würde. Obwohl mich einige ihrer anderen Bücher inhaltlich wirklich interessieren, habe ich als nächstes zu diesem hier gegriffen. Und das obwohl Tennis im Vordergrund steht, wo ich mich für Sport gar nicht interessiere, und wir noch dazu aus Sicht einer unsympathsichen Protagonistin lesen. Dass die Autorin mich trotzdem für diese Geschichte begeistern konnte, sagt einiges aus.

Das Buch beginnt damit, dass Carrie und ihr Vater das Finalspiel der US Open anschauen und Nicki Chan kurz davor ist, den Weltrekord für die meisten Grand Slam Siege zu übertreffen. Für Carrie ist sofort klar, dass sie nicht tatenlos zusehen kann, wie ihr jemand ihren Rekord streitig macht. Sie hat sich zwar bereits als weltbeste Tennisspielerin bewiesen, aber sie kann es nicht verkraften, diesen Titel wieder zu verlieren. Es wird sehr schnell klar, dass Evelyn stark auf Erfolg fokussiert ist. Oft wirkt es sogar, als würde es ihr gar nicht ums Tennisspielen gehen, sondern nur darum, zu gewinnen. Als wir nach dem Prolog zu einem Rückblick über ihr bisheriges Leben wechseln, wird auch schnell klar, wieso das so ist. Von ihrem Vater und gleichzeitigem Trainer hat sie von kleinauf eingebläut bekommen, dass sie einmal die Beste sein wird und immer weiter an sich arbeiten muss, bis sie diesen Punkt erreicht. Das machte sie für mich aber nicht gerade sympathisch. Sie ist nicht nur direkt, sondern absichtlich verletzend und nimmt keinerlei Rücksicht auf Andere. Für sie gibt es nur den Sieg und diejenigen, die ihr im Weg stehen.

Wir folgen ihr durch ihre Kindheit, ihre Anfangszeit im Profi-Tennis und bei ihren ersten (und weiteren) großen Siegen und Erfolgen. Bis sie sich schließlich wegen einer Verletzung zur Ruhe setzen muss. An diesem Punkt knüpft die Geschichte an den Prolog an. Mir gefiel es sehr, dass es keine kurzen Rückblicke zwischen den Gegenwarts-Szenen gab, sondern chronologisch erzählt wurde. So wurde ihre Entwicklung am besten deutlich. Carrie konnte ich trotzdem nicht wirklich leiden. Sie wirkt einfach nur kalt und gemein, genauso wie die Medien sie auch darstellen. Mit der Zeit merkt man aber, dass das nicht die ganze Wahrheit ist, denn dahinter steckt ein Mensch, der nie gelernt hat, zu verlieren und eine tierische Angst davor hat. Und das ist nicht nur auf Tennis bezogen.

Ich fand es beeindruckend, wie die Autorin es geschafft hat, dass ich nach einer Weile richtig mit Carrie mitgefiebert habe, obwohl ich sie lange nicht ausstehen konnte. Besonders haben es mir ihre Beziehungen zu anderen angetan, denn obwohl sie augenscheinlich niemanden an sich heranlässt, haben es doch ein paar Leute in ihr Herz geschafft, allen voran ihr Vater. Ich hatte erwartet, dass die Tatsache, dass er sie trainiert, die Familienbande zerstören würde, aber das war überhaupt nicht der Fall. Stattdessen habe ich die wahrscheinlich engste Vater-Tochter-Beziehung gesehen, über die ich je gelesen habe und das fand ich großartig. Beide sind außerdem Latinx und ich fand, dass die eingeworfenen Worte und Sätze auf Spanisch dem Ganzen noch mehr Tiefe gegeben haben.

Tatsächlich hätte ich gerne noch mehr zwischenmenschliches gesehen und auch mehr darüber erfahren, wie es Carrie in ihrer Pause ergangen ist. Für jemanden, der so sehr auf das Spiel fokussiert ist, hätte mich interessiert, wie sie damit umgegangen ist, als das plötzlich weggefallen ist. Vorher wirkte sie sehr flach, sehr fokussiert auf den Sieg und nichts anderes und gar nicht wie ein echter Mensch. Das hat sich später aber geändert, sie ließ etwas mehr durchblicken und ich bin großer Fan ihrer Charakterentwicklung. Der Fokus der Erzählung lag natürlich aber auch stark auf dem Tennis. Viele Spiele werden nur zusammengefasst, andere aber praktisch Ball für Ball nacherzählt. Als jemand, der nicht einmal das Punktesystem kannte, war ich dabei zeitweise etwas verloren und konnte vor allem mit den Begriffen für die verschiedenen Schläge nichts anfangen, aber es hat gereicht um grob zu verstehen, was vor sich geht. Diese Szenen sind meiner Ansicht nach aber auch sehr wichtig für die Geschichte, daher kann ich das nicht kritisieren.

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Fazit:

Als ich das Buch begonnen habe, hätte ich niemals erwartet, dass mich ein Buch über eine unsympathische Hauptfigur, das sich um Tennis dreht, so für sich einnehmen könnte. Es war eine wilde Reise zwischen der Frage, ob das Buch vielleicht einfach nichts für mich ist, und dem Moment kurz vor Schluss, an dem mir Tränen über das Gesicht liefen, weil ich die Figuren so lieb gewonnen hatte. Die Charakterentwicklung der Protagonistin hat mich stark für mich eingenommen und gerade die zwischenmenschlichen Beziehungen fand ich grandios.