Rausch und Melancholie im Neonlicht

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Ich bin schon seit Monaten in den Buchhandlungen um „City of Girls“ herumgeschlichen und habe mich immer wieder dagegen entschieden. Grund dafür waren einige durchschnittliche bis eher schlechte Rezensionen, die ich im Vorfeld gelesen hatte und mich in Kombination mit dem stolzen Preis von 17€ für ein Paperback immer wieder abschrecken konnten.
Ich kann schon einmal vorweg nehmen: Was bin ich froh, dass mich dieses Buch am Ende doch verführt hat!

Inhalt:
New York, Anfang der Vierzigerjahre:
Nachdem sie wegen schlechter Leistungen vom College geflogen ist, wird Vivian Morris, eine neunzehnjährige Jungfrau aus wohlhabendem und spießbürgerlichem Elternhaus, nach New York zu ihrer Tante Peg verbannt.
Peg Buell ist das Schwarze Schaf der Familie. Sie verfolgt einen exzentrischen Lebensstil und führt ein kleines Theater auf dem Times Square, das mit minderwertigen Vorstellungen gerade so über die Runden kommt und dessen Bewohner und Angestellte lieber dem Nachtleben frönen als sich mit dem Ernst ihrer Zeit zu beschäftigen. Das alles scheint genau das zu sein, wonach sich Vivian ihr ganzes Leben lang gesehnt hat und so stürzt sie sich umgehend und ohne Rücksicht auf Verluste in den Strudel der New Yorker Clubszene. Nun verbringt sie ihre Zeit nicht mehr mit faden College-Studentinnen, sondern mit glamourösen Revuegirls, Tänzern, Schauspielern und - ach ja - Männern, Männern und nochmals Männern. Die Großstadt und Vivians Welt scheinen sich immer schneller und noch schneller zu drehen bis das wilde Treiben plötzlich in einer Katastrophe sein jähes Ende nimmt.

Meine Meinung:
„City of Girls“ wird von der Stimme einer alten Frau erzählt. Es ist Vivian selbst, die am Ende ihres Lebens für eine gewisse Angela ihre Biographie in einen Brief packt. Der Leser erfährt erst sehr spät im Buch, wer genau Angela ist und noch viel wichtiger: Wer Angelas Vater war.
(An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich sofort wusste, wer Angelas Vater war. Schon bei seinem ersten Auftritt war es mir klar. Das hat dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch getan.)
Der Schreibstil ist wunderbar bildlich, atmosphärisch und in Teilen philosophisch. Man wird mitten hineingezogen in das bunte, lasterhafte New York kurz vor dem zweiten Weltkrieg. New York generell wird so schillernd und organisch beschrieben, dass man sich fast schon grämt, wenn man, so wie ich, noch nie dort war.

Dieses Schillern und der Überfluss an Leben, den der erste Teil der Geschichte vermittelt, wird vom Fischer-Verlag wunderschön im deutschen Cover transportiert. Das Cover muss ich an dieser Stelle noch einmal besonders hervorheben. Es ist für mich mühelos eines der Top Drei Cover 2020. Obwohl die dargestellte Szene nichts direkt mit „City of Girls“ zu tun hat, erinnert sie doch irgendwie an Vivian, ihre Freundin Celia und deren Eskapaden. Vermutlich ist es sogar dieses Cover, das letztendlich den Ausschlag zu meinem Kauf gegeben hat. Ich wollte es einfach unbedingt in meinem Regal sehen.

Die teils so schlechten Rezensionen kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Da ist oft von „langweilig“ die Rede. Für mich war das Buch eher soghaft. Durch die autobiographische Erzählform gibt es natürlich wenig künstlich konstruierte Spannung. Das Buch ist eben wie das Leben selbst, eine Aneinanderkettung von Ereignissen, die sich manchmal gegenseitig bedingen.
Die Protagonisten sind außergewöhnlich und zumeist liebenswert gezeichnet, selbst dann noch, wenn sie objektiv betrachtet keine guten Menschen sind.
Vivian fand ich dabei am spannendsten. Obwohl die jüngere Version von ihr so naiv und in vielerlei Hinsicht auch ziemlich dumm ist, versteht man sie und ihren Wunsch nach Freiheit in dieser doch so engstirnigen Zeit. (Obwohl sie mir zu keinem Zeitpunkt leid getan hat.)
Oft habe ich auch gelesen, dass sich Rezensent*innen über den übermäßigen Fokus auf Vivians Sexualleben beschweren. Dabei gab es wenige explizite Sexszenen, vom Rest wurde nur erzählt und das auch nicht unbedingt der Sexualität wegen, sondern weil Vivians bewusste Entscheidung für ein promiskuitives Leben (entgegen der gesellschaftlichen Normen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts) ein wichtiger Teil ihrer Charakterentwicklung ist. Sie hat sich später ja auch in anderen Bereichen vom gängigen Frauenbild ihrer Zeit abgewandt. Außerdem kommt es mir manchmal so vor, als ob es selbst heute noch Menschen gibt, die es sogar einer Buchfigur vorwerfen ein solches Leben zu führen und das finde ich - kurz gesagt - unmöglich.

Wie der Titel schon sagt, legt das Buch seinen Fokus auf die Frauen in der Geschichte. Auf ihre Beziehungen untereinander und zu Männern, welche in den meisten Fällen kaum mehr als Statisten sind. Es geht um die Gefühle von Frauen, um die Bedürfnisse von Frauen und darum zu sein, wer man nun eben ist. Unabhängig davon, wer man vielleicht hätte werden sollen.

Einen kleinen Kritikpunkt am Plot von „City of Girls“ habe ich: Nachdem die große unweigerliche Katastrophe geschehen ist und Vivians Existenz in Scherben liegt, beginnt ein ruhigerer, melancholisch-philosophischer Teil des Buchs, in dem Angela und der Leser Vivian durch die Kriegsjahre ihr Erwachsenenleben begleiten. Ich hätte mir gewünscht, dass dieser Teil noch etwas detailreicher erzählt wird. Hier fliegt man nämlich geradezu durch die Jahre und auch in die Zeit, die Vivian mit Angelas Vater verbracht hat, hätte ich mir noch ein paar ausführlichere Einblicke gewünscht. Ich hatte teilweise den Eindruck, als ob hier ein bisschen zu viel erzählt und zu wenig gezeigt wurde.
Das Ende von Vivians Lebensgeschichte und damit auch dem Brief an Angela fand ich übrigens hochemotional. Ich war wirklich sehr ergriffen.

Fazit:
„City of Girls“ ist eine glanzvolle, abwechslungsreiche, manchmal leise und manchmal laute Geschichte über Freundschaft, Liebe, Familie, Glück und den Verlust von alledem. Ich werde sie bestimmt noch öfter lesen, weil in dem tiefen Graben zwischen dem Rausch und der Melancholie New Yorks so ein wohliges Gefühl von Wärme und Zufriedenheit zurückbleibt.
Es ist ein ganz und gar besonderes Buch.