Viele Details, wenig Handlung, kein überzeugendes Konstrukt

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viv29 Avatar

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Es gab wenige Bücher, bei denen mich die Leseprobe so begeistert hat. Die 19jährige Vivian berichtet, warum sie 1940 von ihren Eltern nach New York geschickt wird und dieser Überblick ist so spritzig, mit so viel Wortwitz geschildert, daß das Lesen richtig Spaß macht. Mit scharfem Blick beobachtet Vivian ihre Mitmenschen, skizziert treffend Vassar-Mitstudentinnen mit "wichtigtuerischem Haar" (ein herrlicher Ausdruck!), entwirft das Bild ihrer Oberschichteltern, des perfekten Bruders und der exzentrischen Großmutter. Es gibt hier so viel Originelles, daß ich es kaum erwarten konnte, mit Vivian die ersten Schritte in New York zu erleben und auch ihr Umfeld besser kennenzulernen. Vivian versprach, eine unterhaltsame und scharfsinnige Protagonistin zu werden. Ich beschreibe das so genau, weil dieser Anfang so hohe Erwartungen weckte, die leider dann sehr enttäuscht wurden. Der spritzige Schreibstil blitzt nach diesem Anfang nur noch vereinzelt durch und Vivian erweist sich als blasse Protagonistin. Irgendwann sagt ihr jemand, daß sie nicht interessant ist und es nie werden wird, und das stimmt leider.

Nach dem flotten, vielversprechenden Anfang sinkt das Erzähltempo stark. Vivian zieht in das heruntergekommene Theater ihrer Tante Peg und zunächst lesen wir noch recht unterhaltsame Beschreibungen der dort lebenden und arbeitenden skurrilen Leute - talentierte Musiker, aufregende Revuegirls, ein verzweifelnder Stückeschreiber. Es ist eine recht gute Spiegelung der Kunst- und Theaterwelt New Yorks in jenen Jahren, auch einige von Vivians Erlebnissen zeigen dieses New York unterhaltsam. Leider verliert die Autorin sich dann aber sehr in diesen Beschreibungen. Wir erfahren en detail, welche Shows das Theater zeigt - inklusive genauer Informationen über Musik, Geschichten, Kulissen, Kostüme. Das ist anfangs noch interessant, hört aber gar nicht mehr auf, wiederholt sich und wird langweilig. Seitenlange Beschreibungen der einzelnen Kleidungsstücke einer Schauspielerin und langatmige Unterhaltungen über die Kleider tragen nichts zur Geschichte bei und sind regelrecht zäh.
Auch Vivans eigenes Leben befindet sich bald in einem recht einseitigen Kreislauf. Vivian verbringt ihre Zeit hauptsächlich damit, auszugehen und mit Männern ins Bett zu gehen. Viele gleichlautende Passagen des immergleichen Geschehens. Das machte leider wenig Lesespaß. Es wird generell gerne wiederholt - Dinge werden nicht einmal erklärt, sondern gleich mehrfach hintereinander. Wo ein Satz alle notwendigen Informationen vermittelt, folgen noch vier weitere. Manche Fakten erfahren wir alle paar Seiten erneut. Ich mußte mich hier oft zwingen, weiterzulesen.

Als das Theater die Show "City of Girls" vorbereitet und aufführt, geht es um die 80 Seiten fast nur um diese Show - Handlung bis hin zur detaillierten Beschreibung einzelner Szenen, Charaktere, Liedtexte, unzählige ähnlich lautende Zeitungskritiken. Auch hier sind die Details für den Fortgang der Geschichte nicht relevant und lesen sich zäh. Das war der schwächste Teil des ganzen Buches. Der im Klappentext erwähnte Skandal bringt dann kurzfristig ein wenig Tempo in die Geschichte und es folgt ein Teil, den ich hervorragend fand: die direkten Auswirkungen des Krieges auf die Familie. Das ist mit so wenigen Worten so eindrücklich beschrieben, daß ich manche Sätze mehrfach las und tief berührt war. Leider verliert sich dieser prägnante Stil schnell wieder in der detailverliebten Geschwätzigkeit ohne wirkliche Handlung.

Im letzten Teil tauchen plötzlich lauter neue Charaktere auf, die teilweise ausführlich beschrieben werden, um dann nie wieder vorzukommen. Mehrere neue Entwicklungen werden halbherzig und rasch in die Geschichte geworfen, während die eigentliche Handlung behäbig voranschreitet. Auch hier habe ich mich leider sehr gelangweilt.

Die Prämisse des Buches ist, daß Vivian als 90jährige Frau einer uns unbekannten Angela erklärt, was Angelas Vater ihr bedeutet hat. Das Buch richtet sich wie ein Brief an diese Angela, was sich eigentlich nur dadurch bemerkbar macht, daß Angela manchmal direkt angesprochen wird. Wer sie ist, wer ihr Vater ist - das erfahren wir erst am Ende des Buches und deshalb funktioniert das Konstrukt für mich nicht. Vivian behauptet, Angela von ihrem Vater erzählen zu wollen. Zu 90 % erzählt sie ihr aber Dinge, die in dieser Hinsicht völlig irrelevant sind. Was sollte Angela mit den Details über Schauspielerkleidungsstücke, einem 1940 aufgeführten Stück und insbesondere mit den vielen, vielen (völlig unnötigen) Details über Vivians Liebesleben anfangen können? Warum sollte Vivian das alles einer ihr fast Unbekannten erzählen? Die Geschichte von Angelas Vater wirkt dann am Ende wie draufgepfropft. Dafür, das sie das Thema des Buches sein sollte, erhält sie zu wenig Beachtung und spielt zu spät eine Rolle.

Äußerlich ist das Buch sehr ansprechend gestaltet. Das Titelbild fängt die Stimmung gut ein, fällt auf angenehme Weise auf. Die Schrift findet sich in den Kapitelüberschriften wieder - ebenfalls sehr gelungen. Weniger erfreut war ich über einige verunglückte Übersetzungsformulierungen. So wurde sich oft zu sehr an den englischen Originaltext angelehnt, was bei einer guten Übersetzung nicht passieren sollte. Zum Beispiel findet sich der Satz "Peg war entsetzt von den Kosten" - da blitzt das "shocked by the costs" durch, im Deutschen würde man das aber nie sagen, da wäre man "entsetzt über die Kosten". Dann wechseln zwei Leute mitten in einer Unterhaltung vom "Sie" zum "Du", ohne daß es nachvollziehbar ist, warum plötzlich von einem Satz zum anderen die Form der Anrede gewechselt wird. Solche Fehler haben mich bei einem Verlag vom Format des Fischer Verlags doch überrascht. Es sind nur einzelne Punkte in einer Übersetzung, die sich sonst gut lesen läßt, aber es kam doch öfter vor, als es wünschenswert gewesen wäre.

So haben wir hier eine sehr handlungsarme detailverliebte Schilderung, deren Prämisse nicht zum Inhalt paßt. Es gibt witzige und auch berührende Passagen. Es gibt auch originelle, gut getroffene Charaktere und interessante Informationen über New York im zweiten Weltkrieg. Leider ersticken die guten Aspekte in unnötigen Details und Wiederholungen, kranken außerdem an einer wenig mitreißenden Protagonistin.