Lohnende Neuauflage

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Dempsey, ein fiktiver Ort vor den Toren New Yorks, heruntergekommene Sozialbausiedlungen-Ende der 80er/Anfang der 90er/eine Gruppe Dealer, vorwiegend schwarzer Hautfarbe und unterschiedlicher Rangstufe und mehr oder weniger korrupte Cops,vorwiegend weißer Hautfarbe. Das sind Personal, Zeit und Ort der Handlung von Richard Price´neu aufgelegtem, ursprünglich 1992 erschienenen und von Spike Lee 1995 verfilmten Roman Clockers. Auch auf Deutsch ist der Roman damals erschienen, mit mäßigem Erfolg. Das verwundert, denn selten hat man so eindrücklich und packend das Milieu der sogenannten Straße, ihre Hoffnungs- und Ausweglosigkeit geschildert bekommen. Sicher sind einige Schilderungen nicht mehr ganz aktuell, aber von der Grundsituation und zeitgeschichtlich hoch interessant. Immer wieder stellt man sich die Frage, wie ein Land wie die USA eine solche Parallelwelt in ihrer Mitte zulassen konnte bzw. kann.
Da ist zum einen Strike, einer der schwarzen Clockers, die rund um die Uhr auf der Straße Stoff verkaufen. Er entstammt selbst einer solchen Sozialsiedlung, illusionslos versucht er einzig viel Geld zu machen, um der ganzen Situation irgendwann zu entfliehen. Er hasst seinen Job, verachtet sowohl die anderen Dealer als auch seine Kunden, erinnert in seiner Arbeitshaltung öfter an einen kleinlichen Beamten, hat aber weder Empathie noch Skrupel. Dann ist da Rocco Klein, der, obwohl erst Mitte 40, von seiner Pensionierung träumt, seinen Job und irgendwie auch sich selbst hasst, ständig auf der Suche nach Anerkennung und einem Sinn seiner Existenz. "...wenn er nur dieses kurzzeitige Gefühl wiedererlebte, dass sein Leben irgendwie von Bedeutung war." Diese Bedeutung kann er weder im Beruf, noch als Ehemann oder Vater einer kleinen Tochter wirklich spüren.
Die Story wird nun kapitelweise mit jeweils Schwerpunkt auf eine dieser beiden Figuren erzählt. Darum ranken sich eine große Zahl von Nebenfiguren und -handlungen, die aber wegen der großartigen Handlungsführung (zumindest mich) nie verwirrten, sondern immer eine Bereicherung darstellten. Strike und Rocco verrichten also relativ lustlos ihre Jobs, als ein Mord geschieht. Ein Mord, den eigentlich Strike im Auftrag seines Chefs verüben sollte. Nun gesteht aber Victor, Strikes Bruder, ein bisher unbescholtener Familienvater. Weder Strike, noch Rocco Klein schenken diesem Geständnis Glauben. Während Strike einen berüchtigten Killer verdächtigt, nimmt Klein zunehmend Strike selbst ins Visier, beißt sich daran fest und will ihn partout überführen. Richtig liegt allerdings keiner von beiden. Richard Price nimmt sich erfreulicherweise sehr viel Zeit für seine Personen. Niemand ist hier so eindeutig gut oder böse, selbst mit Strike, dem sein "harter Job" ein Magengeschwür verpasst, entwickelt man so langsam ein gewisses Mitgefühl, so unsympathisch und abstoßend er auch in manchen Bereichen auftritt. Besonders erschreckend, wenn auch nicht gänzlich neu, ist die Rolle der "Cops". Korrupt, selbstherrlich und brutal treten sie auf. Einer sagt einmal, seine Aufgabe sei es, "die niederen Lebensformen in seinem Revier zu belästigen, zu jagen und zu quälen, damit sie zusammenpacken und weiterziehen". Da ist keine Rede von Gerechtigkeit, Sicherheit und Verbrechensvorbeugung. Man hat sich arrangiert, jede Seite weiß, was die andere Seite tut. Es herrscht Willkür, es werden Spielchen gespielt, erniedrigt und gerne auch einmal abkassiert. Man erfährt, dass fast alle Polizisten einen oder mehrere Nebenjobs haben (Schnapsladenbesitzer, Kellner,Sicherheitsdienst usw.) und wundert sich ein bißchen weniger, fragt sich aber wie es sein kann, dass ein Staat eine solche, relativ rechtlose Parallelwelt zulassen kann. Hoffentlich funktioniert unser deutsches System da besser. Es ist ein illusions- und trostloser, wenn auch zum Schluss nicht ganz hoffnungsloser Blick in eine Welt, mehr oder weniger am Rande der Gesellschaft, die aber dennoch, wegen der Bedrohung für ihre eigene Stabilität die davon ausgeht, nicht die Augen davor verschließen darf. Packend und oftmals hart in der Sprache der Straße geschrieben, sorgfältig entwickelt und mit genauem Blick auf die Charaktere, ist Richard Price damit eine Milieustudie geglückt, die trotz der 800 Seiten nie langweilt. Eine empfehlenswerte Lektüre und lohnenswerte Neuauflage.