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Die Mörder mitten unter uns

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majandra Avatar

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**1) Inhalt**

Früher war Keye Street Special Agent im FBI. Als psychologische Gutachterin verfiel sie dem Alkohol und lebt jetzt als Privatdetektivin. Hauptsächlich arbeitet sie für verschiedene Kanzleien und stellt Kautionen und Vorladungen zu. Eines Tages wird sie von ihrem besten Freund Aaron Rauser als Beraterin in einem Mordfall angestellt.

Leider ist der Mord kein Einzelfall: mehrere Personen fallen dem Täter zum Opfer, der schließlich auch Briefkontakt mit der Polizei aufnimmt – nicht prahlerisch, jedoch herablassend, um sich von seiner scheinbar geschützten Position aus über die Polizei und ihre hilflose Ermittlung lustig zu machen. Seit diesem Zeitpunkt wird er als „Wunschknochen“ tituliert, da er in seinem Brief eine entsprechende Wendung benützt:

 

_               _ _Das Letzte, was sie hörte, abgesehen von ihren eigenen Wimmern, war das Klicken meiner Kamera_
_               _ _und das_ _leise Knacken ihres Genicks, als würde ein Wunschknochen entzweibrechen._ (S. 43)

 

Alle ermordeten Personen können aufgrund der Handschrift dem gleichen Täter zugordnet werden: Sie liegen auf dem Bauch und haben die Beine gespreizt, außerdem hinterlässt der Mörder Bissspuren und Stichwunden an den Opfern. Die Polizei geht auch davon aus, dass es sich um sexuell motivierte Taten handelt.

 

Als Keye Street in den Fall einsteigt, sind bereits vier Opfer bekannt: Anne Chambers, die bereits vor vielen Jahren getötet worden ist, Bob Shelby, ein Weißer, Elicia Richardson, eine Schwarze, Lei Koto, Asiatin. Es lässt sich kein Muster in den Morden erkennen, ein Zusammenhang zwischen den Opfern wird nicht gefunden. Kurze Zeit später kündigt Wunschknochen in einem weiteren Brief an, einen Mann namens David nach Ablauf einer Dreitagesfrist zu ermorden. Den Polizisten gelingt es nicht, das zu verhindern. David Brooks ist somit das fünfte Opfer.

Hier wird die Vorgehensweise des Täters scheinbar anders – David wurde sanfter behandelt und nicht so offensichtlich und entwürdigend inszeniert. Er wurde mit einem schnellen Handgriff getötet, was die Ermittler auf die Idee bringt, der Mörder verändere seine Taktik, entwickle sich oder lerne weiter. Die LeserInnen hingegen wissen zu diesem Zeitpunkt längst, dass der Mörder eine spezielle „Beziehung“ zu dem Opfer hatte – sie kannten sich von früher, hatten trotz Davids Ehe bereits einmal Verkehr und treffen sich erneut in einem Restaurant.

 

Nebenbei lernt man Keye Street und ihr Umfeld besser kennen, so vor allem auch ihren Freund Charlie Ramsey. Dieser ist geistig zurückgeblieben, scheinbar hatte er einen schweren Autounfall. Allerdings stellt sich später, als er versucht, Keye zu vergewaltigen, heraus, dass er seine Behinderung nur vortäuscht. Dadurch gerät er als Hauptverdächtiger ins Visier der Polizei. Außerdem gibt es da noch Keyes beste Freundin Diane Paulaskas, die aufgrund von Keyes Alkoholabstinenz immer einen Drink für sie mittrinkt.

 

Keye stellt für die Anwaltskanzlei von Margaret Haze ein Unterlassungsurteil an William LaBrecque aus, der seine Frau und Kinder misshandelt hat. Er ist bald darauf das sechste Opfer, Keye findet ihn, weil sie ihn erneut aufsucht, da er sich nicht an das Urteil gehalten hat. Auch hier ist der Tatort anders – das Opfer ist mit deutlich größerer Brutalität ermordet worden als die anderen, mit denen der Täter gespielt und seinen Fantasien freien Lauf gelassen hat.

Bald danach hat Keye einen Verkehrsunfall und landet für einige Tage im Krankenhaus. Es stellt sich heraus, dass ein Vorderrad gelockert worden ist. Wunschknochen entschuldigt sich für diesen Unfall und sendet ihr Blumen. Mehr und mehr hat es den Anschein, als gerate die Privatdetektivin in die Schusslinie des Mörders. Allerdings weiß man als LeserIn nicht, was der Täter tatsächlich vorhat.

Das siebente Opfer ist Jacob Dobbs, Keyes ehemaliger Chef beim FBI. Durch die laufenden Ermittlungen war er häufig im Rampenlicht der Medien gestanden, und auch bei ihm ist der Täter offensichtlich anders vorgegangen – sein Geschlechtsorgan wurde entfernt. Die Polizei tappt nach wie vor einigermaßen im Dunkeln, da Wunschknochen niemals brauchbare Spuren am Tatort hinterlässt.

Das letzte Opfer ist Melissa Dumas. Die Polizei macht Charlie Ramsey dingfest und erklärt die Ermittlungen für abgeschlossen.

 

Keye Street gönnt sich eine kleine „Auszeit“ und beschließt, nach all der Aufregung einen Auftrag in Ellijay im Norden Georgias anzunehmen. Dort vermisst ein Bauer seine Lieblingskuh Sadie und engagiert die Privatdetektivin, sie wieder nach Hause zu bringen.

 

Alles sieht gut aus, da das Buch jedoch noch einige Seiten vor sich hat, kann das Ende damit noch nicht alles gewesen sein. Tatsächlich will Rauser seiner Freundin Keye gerade die Liebe zu ihr gestehen, als er angeschossen wird. Wunschknochen meldet sich per SMS bei Keye und übernimmt die Verantwortung. Charlie kann es jedoch nicht gewesen sein, der sitzt ja in Untersuchungshaft …

 

Rauser fällt ins Koma und überlebt am Ende nur knapp. In der Zwischenzeit findet Neil endlich den Blog, in welchem Wunschknochen seine Fantasien, die er, wie die LeserInnen längst wissen, alle in die Tat umgesetzt hat, beschreibt. Sie können herausfinden, wer tatsächlich hinter dem Decknamen „BladeDriver“ steckt: Es ist Margaret Haze, die berühmteste Strafverteidigerin der Stadt, die als Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht worden ist. Sie hat daraufhin ihre eigene Mutter getötet und skrupellos gegen den Vater ausgesagt. Es wird klar, dass sie als Strafverteidigerin Einblick in alle Akten hatte, was eine Erklärung dafür ist, warum Wunschknochen so gut Bescheid über die Ermittler und Opfer weiß. Haze kann allerdings nicht verhaftet werden – die Polizei hält das neue SMS für eine Täuschung und verlässt sich auf die abgeschlossenen Ermittlungen.

 

Ab Seite 400 von 428 schlagen die überraschenden Wendungen in die Handlung ein. Wer bisher felsenfest davon überzeugt war, der Täter wäre ein Mann, ist getäuscht worden. Es handelt sich um eine Frau. Erst im Nachhinein wird klar, dass der Mörder durchaus kein homosexuelles Verhältnis zu David Brooks hatte, wovon man von Anfang an ohne zu zweifeln ausgeht. Auch gibt es einen Hinweis auf einen weiblichen Täter _und_ auf Haze, von der mehrmals gesagt wird, sie trage nur teure Designerkleidung, bereits früh im Werk:

 

_                Ein Lächeln, dann rutschte eine Hand in den_ Designerslip_, […]_ (S. 74)

 

Die LeserInnen werden jedoch so geschickt in die Irre geführt, dass man sich zumindest bis zur Hälfte des Buchs ziemlich sicher ist, der wahre Täter sei tatsächlich Charlie. Erste Zweifel kommen erst auf, als die alte Emma davon spricht, Keye sei „neulich echt nah dran“ an dem Täter gewesen (S. 303). „Nah dran“ deutet darauf hin, dass es sich eben nicht um Charlie handelt. Stattdessen ist es jemandem geschickt gelungen, ihm alles in die Schuhe zu schieben, da er als Verbrecher ohnehin verurteilt wird. Zudem gibt die alte Frau einen weiteren Hinweis auf eine Täterin:

               

                _Lecken Sie auch Muschis?_ (S. 303)

 

Erst im Nachhinein wird klar, dass die Betonung hier auf dem Wort „auch“ liegen muss – schließlich erfährt man am Ende des Thrillers, dass Haze eine gleichgeschlechtliche Beziehung hatte.

Das ist der Punkt der nächsten überraschenden Wendung: Keye wird in ihrer Wohnung überfallen – von Wunschknochen, wie sie zuerst glaubt. Die Täterin schneidet ihr die Pulsadern der rechten Hand auf, und da erst erkennt sie, um wen es sich handelt: Es ist ihre beste Freundin Diane. Auf die Frage „Warum?“ antwortet sie auf Seite 425: „Weil du nicht aufhören wirst, ehe du alles kaputt gemacht hast.“ Keye erschießt ihre beste Freundin, die eine Liebesbeziehung zu Margaret Haze führte und Dobbs, den Keye nicht leiden konnte, getötet hatte.

 

Am Ende setzt sich Haze ins Ausland ab und wird vom FBI und INTERPOL verfolgt. Diane ist tot und Rauser erwacht aus dem Koma. Das Gute hat gesiegt.

 

**2) Sprache und Stil**

 

Die Autorin hat sich mit ihrem Spannungsbogen wirklich große Mühe gemacht – der Wunschknochen-Mörder und seine Geschichte werden so interessant geschildert, dass man versucht ist, alle anderen erzählten Szenen einfach nur querzulesen, um bald wieder beim roten Faden anzukommen. Allerdings sollte man das nicht tun, da ich aus eigener Erfahrung festgestellt habe, dass man auf diese Art und Weise das Ende nicht gleich versteht und nachlesen muss …

 

Auch was die Sprache betrifft, hat die Autorin mehrere Kunstgriffe verwendet. Die Protagonisten lässt sie sowohl in der Umgangssprache, als auch in gehobener Sprache sprechen, je nachdem, was damit bezweckt werden soll, wodurch jede Person ihre eigene Persönlichkeit verliehen bekommt. Dann gibt es noch die Briefe, die der Mörder an die Polizei schreibt, und die wirklich spannenden Blog-Einträge, die ihrerseits wieder einen eigenen Stil haben.

 

**3) Kritik**

 

Wenn man das Buch erst einmal zu lesen begonnen hat, kann man es eigentlich gar nicht mehr weglegen. Es ist wirklich sehr spannend geschrieben und kann als überaus gelungenes Werk der Autorin gelten.

 

Während des gesamten Handlungsverlaufs fragt man sich als LeserIn selbst, wer der Täter ist. Anfangs ist man noch eher dazu geneigt, Charlie Ramsey alles in die Schuhe zu schieben, es wird aber mehr und mehr klar, dass es da mehr geben muss und er es nicht sein kann. Es wird erst viel später klar, dass es sich um eine perfide Täuschung handeln muss. Mehrere Personen geraten in das Blickfeld der LeserInnen und werden verdächtigt, aus Streets Umfeld bleiben aber nicht viele männliche Verdächtige übrig – dass es sich aber um eine Frau handelt, ist ein Gedanke, auf den man im Leben nicht kommen kann.

 

Es ist auf gewisse Weise beruhigend, dass sich gerade Keyes beste Freundin am Ende als eine der Mörderinnen herausstellt. Diese überraschende Wendung vermittelt weniger ein Gefühl des Kontrollverlusts wegen eines Wahnsinnigen, der auf der Straße herumrennt und überall und jederzeit zuschlagen könnte. Vielmehr entsteht ein „Passiert-mir-nicht“-Gefühl – wie viele beste Freundinnen entpuppen sich schließlich als Mörderin?

 

**4) Empfehlung**

 

Der Thriller ist mehr als nur gelungen. Wer auf der Suche nach einem wirklich spannenden und absolut überraschenden Krimi ist, ist hier genau richtig.