Ein Buch über Gewalt – und über das Miteinander
„Männer töten Frauen, weil sie es wollen und weil sie es können.“ (Seite 360)
„Menschen hinterlassen mehr als Erinnerungen – sie hinterlassen Schwarze Löcher, die dich gnadenlos anziehen und in den Abgrund reißen, wenn du ihnen zu nahe kommst. Wenn jemand geht, fehlt nicht nur die Person, sondern auch ein Stück von jedem, der bleibt.“ (Seite 58)
Jasmin Schreibers neuer Roman startet mit Wucht – besonders die ersten ca. 100 Seiten haben mich als Leserin in Schrecken, Trauer und dann auch vor allem in Wut versetzt.
„Da, wo ich dich sehen kann“ erzählt von Femizid, von Gewalt, Hilflosigkeit, Erschütterung und Trauer. Der Roman nimmt uns mit in die verschiedenen Perspektiven der Hinterbliebenen – angefangen bei der neunjährigen Maja, die Mama Emma und ihren Papa zugleich verloren hat, weil der Vater ihre Mutter ermordet hat.
Wir lesen vom Entsetzen der Eltern der ermordeten Emma, von der Trauer und dem Zorn ihrer besten Freundin und von der Ohnmacht in den Herzen der Eltern des Mörders.
Was wir nicht lesen, ist die Perspektive des Täters. Und das ist gut so.
Denn dieses Buch dreht sich – ganz im Gegensatz zu zahlreichen Krimis oder True-Crime-Formaten – um die Opfer der misogynen Gewalt. Es erzählt von der Atmosphäre, die sich vorher angstvoll zusammengekauert hat, während das Undenkbare zum Sprung angesetzt hat.
Es erzählt davon, was das Trauma danach mit all den Menschen macht, die sprachlos an dem Endpunkt zurückgelassen werden: Die Zeit ist unumkehrbar, der Abgrund schwindelerregend.
Maja wohnt nun bei ihren Großeltern. Sie muss nicht nur das Erlebte verarbeiten, sondern sich in einem komplett neuen Leben zurechtfinden – in einer anderen Stadt, an einer neuen Schule sie muss die Ambivalenz aushalten, den Mörder ihrer Mutter als liebevollen Papa erlebt zu haben und ein Teil von ihm zu sein.
Die ebenfalls schwer erschütterten Eltern von Emma kümmern sich liebevoll, obwohl sie ihre eigenen Kämpfe mit dem Geschehenen austragen müssen. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit den Behörden.
In Liv – der besten Freundin von Emma – findet Maja eine erwachsene Freundin, die ihrer Mama sehr nah war und weit über Majas neun Lebensjahre hinaus eine Emma kannte, die noch keine Gewalt erlebt hatte. Das hilft.
Liv hat keine Kinder, findet sich aber plötzlich in einer mütterlichen Rolle wieder – auch das will bewältigt werden. Zum Glück gibt es auch noch Chloé, Livs Hündin, und die gibt nicht nur Liv Halt, sondern hilft in ihrer für Hunde typischen Empathiefähigkeit auch Maja.
Dennoch: Das Kind bleibt unauffällig und brav, sie schweigt, will niemandem wehtun – und kapselt den Schrecken in sich ein, von wo aus er in ihr weiterwütet und sich unter anderem in schweren Panikattacken Bahn bricht.
Auch befinden sich alle Beteiligten in einem Schwebezustand – niemand weiß, ob Maja bleiben kann. Das wird das Gericht entscheiden.
Die Oberflächlichkeit, die den üblichen Verfahren vor Familiengerichten und Jugendämtern oft innewohnt, wird ebenfalls thematisiert – und damit macht das Buch deutlich, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder ein strukturelles Problem ist. Und dass die Gewalt nicht mit der Inhaftierung des Täters endet.
Mit dem Lesen der 432 Seiten wird klar:
Gewalt gegen die Mutter ist auch immer Gewalt gegen deren Kinder.
Gewalt gegen Frauen ist auch immer Gewalt gegen alle, die die betroffene Frau lieb haben.
Gewalt gegen Frauen ist immer auch Gewalt gegen alle Frauen.
Schreiber gelingt es, diese schwere Geschichte – die mich an manchen Stellen sehr zum Weinen gebracht hat – so zu erzählen, dass auch immer wieder Leichtigkeit, Lebensmut und Humor durchblitzen. Das macht den Roman auf diese Weise gut aushaltbar.
Und der schöne Verlauf von Orange zu Rot im Farbschnitt, der mich anfangs an das Abendrot erinnerte, wurde für mich im Verlauf des Romans immer mehr zu den Farben des Sonnenaufgangs.
Ein handwerkliches Detail, das mir besonders gefallen hat: In vier kleinen Minikapiteln gibt es Brüche, indem die Geschichte an bestimmten Punkten kurz in einem Paralleluniversum weitererzählt wird. Es ist ein Blick tief in die Schuldgefühle der Protagonist*innen – und es ist, wie ich finde, ein besonders gekonnter Kniff der Autorin.
Am Ende hilft der Blick ins Universum dabei, sich trotz allem irgendwie gut aufgehoben zu fühlen in dieser Welt, und daran zu glauben, dass Heilung gelingen kann.
Unbedingte Leseempfehlung!
„Da, wo ich dich sehen kann“ von Jasmin Schreiber erscheint am 31.10.2025 im Eichborn Verlag.
„Menschen hinterlassen mehr als Erinnerungen – sie hinterlassen Schwarze Löcher, die dich gnadenlos anziehen und in den Abgrund reißen, wenn du ihnen zu nahe kommst. Wenn jemand geht, fehlt nicht nur die Person, sondern auch ein Stück von jedem, der bleibt.“ (Seite 58)
Jasmin Schreibers neuer Roman startet mit Wucht – besonders die ersten ca. 100 Seiten haben mich als Leserin in Schrecken, Trauer und dann auch vor allem in Wut versetzt.
„Da, wo ich dich sehen kann“ erzählt von Femizid, von Gewalt, Hilflosigkeit, Erschütterung und Trauer. Der Roman nimmt uns mit in die verschiedenen Perspektiven der Hinterbliebenen – angefangen bei der neunjährigen Maja, die Mama Emma und ihren Papa zugleich verloren hat, weil der Vater ihre Mutter ermordet hat.
Wir lesen vom Entsetzen der Eltern der ermordeten Emma, von der Trauer und dem Zorn ihrer besten Freundin und von der Ohnmacht in den Herzen der Eltern des Mörders.
Was wir nicht lesen, ist die Perspektive des Täters. Und das ist gut so.
Denn dieses Buch dreht sich – ganz im Gegensatz zu zahlreichen Krimis oder True-Crime-Formaten – um die Opfer der misogynen Gewalt. Es erzählt von der Atmosphäre, die sich vorher angstvoll zusammengekauert hat, während das Undenkbare zum Sprung angesetzt hat.
Es erzählt davon, was das Trauma danach mit all den Menschen macht, die sprachlos an dem Endpunkt zurückgelassen werden: Die Zeit ist unumkehrbar, der Abgrund schwindelerregend.
Maja wohnt nun bei ihren Großeltern. Sie muss nicht nur das Erlebte verarbeiten, sondern sich in einem komplett neuen Leben zurechtfinden – in einer anderen Stadt, an einer neuen Schule sie muss die Ambivalenz aushalten, den Mörder ihrer Mutter als liebevollen Papa erlebt zu haben und ein Teil von ihm zu sein.
Die ebenfalls schwer erschütterten Eltern von Emma kümmern sich liebevoll, obwohl sie ihre eigenen Kämpfe mit dem Geschehenen austragen müssen. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit den Behörden.
In Liv – der besten Freundin von Emma – findet Maja eine erwachsene Freundin, die ihrer Mama sehr nah war und weit über Majas neun Lebensjahre hinaus eine Emma kannte, die noch keine Gewalt erlebt hatte. Das hilft.
Liv hat keine Kinder, findet sich aber plötzlich in einer mütterlichen Rolle wieder – auch das will bewältigt werden. Zum Glück gibt es auch noch Chloé, Livs Hündin, und die gibt nicht nur Liv Halt, sondern hilft in ihrer für Hunde typischen Empathiefähigkeit auch Maja.
Dennoch: Das Kind bleibt unauffällig und brav, sie schweigt, will niemandem wehtun – und kapselt den Schrecken in sich ein, von wo aus er in ihr weiterwütet und sich unter anderem in schweren Panikattacken Bahn bricht.
Auch befinden sich alle Beteiligten in einem Schwebezustand – niemand weiß, ob Maja bleiben kann. Das wird das Gericht entscheiden.
Die Oberflächlichkeit, die den üblichen Verfahren vor Familiengerichten und Jugendämtern oft innewohnt, wird ebenfalls thematisiert – und damit macht das Buch deutlich, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder ein strukturelles Problem ist. Und dass die Gewalt nicht mit der Inhaftierung des Täters endet.
Mit dem Lesen der 432 Seiten wird klar:
Gewalt gegen die Mutter ist auch immer Gewalt gegen deren Kinder.
Gewalt gegen Frauen ist auch immer Gewalt gegen alle, die die betroffene Frau lieb haben.
Gewalt gegen Frauen ist immer auch Gewalt gegen alle Frauen.
Schreiber gelingt es, diese schwere Geschichte – die mich an manchen Stellen sehr zum Weinen gebracht hat – so zu erzählen, dass auch immer wieder Leichtigkeit, Lebensmut und Humor durchblitzen. Das macht den Roman auf diese Weise gut aushaltbar.
Und der schöne Verlauf von Orange zu Rot im Farbschnitt, der mich anfangs an das Abendrot erinnerte, wurde für mich im Verlauf des Romans immer mehr zu den Farben des Sonnenaufgangs.
Ein handwerkliches Detail, das mir besonders gefallen hat: In vier kleinen Minikapiteln gibt es Brüche, indem die Geschichte an bestimmten Punkten kurz in einem Paralleluniversum weitererzählt wird. Es ist ein Blick tief in die Schuldgefühle der Protagonist*innen – und es ist, wie ich finde, ein besonders gekonnter Kniff der Autorin.
Am Ende hilft der Blick ins Universum dabei, sich trotz allem irgendwie gut aufgehoben zu fühlen in dieser Welt, und daran zu glauben, dass Heilung gelingen kann.
Unbedingte Leseempfehlung!
„Da, wo ich dich sehen kann“ von Jasmin Schreiber erscheint am 31.10.2025 im Eichborn Verlag.