ein erschütternder Blick auf das Unsagbare

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Selten hinterlässt ein Roman ein solches Gefühl der Beklemmung und Nachdenklichkeit wie „Da, wo ich dich sehen kann“ von Jasmin Schreiber. Schon auf den ersten Seiten ist das Schreckliche geschehen – und gerade diese Entscheidung, nicht den Mord selbst, sondern dessen Nachbeben zu erzählen, macht das Buch so kraftvoll. Zurück bleibt eine neunjährige Tochter, Maja, die versucht, in einer Welt ohne ihre Mutter zurechtzukommen. Die Erwachsenen um sie herum – Großeltern, Patentante, Freunde – alle kämpfen mit Schuld, Sprachlosigkeit und der Frage, wie man weitermachen kann, wenn das Leben stillsteht.
Besonders eindrucksvoll ist die multiperspektivische Erzählweise. Selbst die Hündin Chloé bekommt eine Stimme – eine zarte, beinahe tröstliche Note inmitten all der Dunkelheit. Schreiber gelingt es, jede Figur mit einer eigenen Emotionalität auszustatten, auch wenn einige Nebencharaktere etwas zu schematisch bleiben. Die eingeflochtenen Dokumente wie Notrufprotokolle oder Gerichtsurteile wirken beklemmend authentisch und zeigen, wie tief die Wunden eines Femizids reichen – weit über das eigentliche Opfer hinaus.
Thematisch bewegt sich der Roman zwischen Trauerbewältigung und Gesellschaftskritik. Er ist Anklage und Mahnung zugleich, denn Schreiber zeigt schonungslos auf, wie oft in der öffentlichen Wahrnehmung Täter und Opfer vertauscht werden. Dass die Autorin dieses Thema in einer literarischen Form zugänglich macht, ist mutig und wichtig.
Der Schreibstil ist eindringlich, dabei klar und unaufgeregt – gerade das macht die Wucht der Emotionen so greifbar. Trotz kleiner Schwächen in der Figurenzeichnung bleibt der Roman ein berührendes, notwendiges Buch.
Fazit: „Da, wo ich dich sehen kann“ ist keine leichte Lektüre, aber eine, die bleibt. Für Leser*innen, die gesellschaftlich relevante Themen nicht scheuen und bereit sind, sich auf emotionale Tiefe einzulassen – unbedingt empfehlenswert.