Leben im halbbewussten Zustand

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bookworm_ Avatar

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Die letzte Seite von "Dämmerschlaf" ist gelesen und ich werde hin und hergerissen zurückgelassen. Diesen Roman zuende zu lesen hat einige Kraft gekostet. Immer wieder starte ich den Versuch weiterzulesen und gebe nach wenigen Seiten auf, einfach weil ich müde werde. Häufig passiert seitenweise einfach nichts, leere Gespräche, leere Gedankengänge, leere Handlungen und man kommt in Versuchung eben diese Seiten zu überspringen. An dieser Stelle kommt jedoch das große ABER: das Buch ansich ist wirklich gut. Es ist genau diese leere, gelangweilte Stimmung, die man beim Lesen bekommt, die sich auch in der Handlung und in den Personen widerspiegelt...

Es ist das New York der Nachkriegszeit (1920er) und wir tauchen ein in das Leben einzelner Figuren der High Society. Diese Menschen müssen sich eigentlich um nichts Sorgen machen. Der Krieg ist vorbei, scheint sogar vergessen, es mangelt an nichts und die Zwänge, denen Frauen noch Ende des 19. Jahrhunderts erlagen, haben spürbar nachgelassen. Und doch: nichts als Leere, keiner scheint mit diesen neugewonnenen Freiheiten wirklich klar zu kommen. Die eine Generation, versinnbildlicht durch Pauline, die Mutter, lebt ausschließlich aus ihrem Terminkalender. Ein "Verpflichtung" jagt die nächste, nie kommt sie zur "wohlverdienten Ruhe" und wenn dann nur in Form eines weiteren Termins auf ihrer Liste, z.B. bei einem neuen Wunderheiler. Doch sobald es einen wirklichen Moment der Ruhe gibt, Pauline also, aus welchen Gründen auch immer, keinen Termin hat, weiß sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen: "...eine Stunde ist für alles zu lang". Solche Momente lassen einen einerseits schmunzeln, andererseits traurig werden, denn die innere Leere dieser Person ist so deutlich spürbar. Sobald sie nichts zu tun hat, merkt man regelrecht die Unruhe, die sich in ihr breit macht, das Beschäftigen mit sich selbst, den eigenen Gedanken und Lebenslügen - damit kommt Pauline nicht klar. Allen anderen Personen in ihrem Umfeld versucht sie diese Lebensart aufzudrücken und kann in keinster Weise nachvollziehen warum jemand nicht so ein "glückliches" Leben wie sie führen will. Insbesondere ihre Tochter Nona konfrontiert sie immer wieder damit. Diese kann mit der Lebensweise ihrer Mutter nichts anfangen, amüsiert sich auch oft darüber. In Nona herrscht eine andere Art von Leere, der sie sich auch bewusst ist, aber nicht genau weiß wie sie sie füllen soll. Sie spiegelt damit die jüngere Generation wider (die Figur Lita in noch extremerer Weise), der Dinge, wie Heirat und öffentliches Ansehen, nicht mehr wichtig und die Maßstäbe für ein erfülltes Leben sind. Dafür scheinen sie völlig verloren, langweilen sich nur noch und können mit ihrer Freiheit nichts anfangen. Sie befinden sich in einem Dämmerschlaf - einem halbbewussten Zustand (siehe Nachwort).

Das Nachwort des Romans kommt noch mit einigen interessanten Details zu der damaligen Zeit rüber. Ebenfalls wird der Begriff "Dämmerschlaf" erläutert und durch Edith Wartons Biographie wird dann auch die Verachtung für solche Personen deutlich, wie sie in ihrem Roman beschrieben werden.

Alles in allem kein einfaches Buch! Sehr anstrengend zu lesen! Aber ich würde sagen, es lohnt sich trotzdem bis zum Ende durchzuhalten und Seiten nicht zu überfliegen, da einem sonst diese ganz besondere Atmosphäre dieses Romans entgeht. Selten schafft es ein Buch die Stimmung einer Zeit (Langweile, Leere, dauerhafte Ablenkung) so gut einzufangen. Zu guter Letzt regt das Buch an vielen Stellen noch zum Nachdenken an, denn heute - fast 100 Jahren später - hat sich an dieser Leere, die die Menschen empfinden, nichts geändert. Sie ist vielleicht sogar noch gravierender geworden.