Alt werden heißt verlieren lernen

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lesestress Avatar

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„Alt werden heißt verlieren lernen. Heißt jede oder fast jede Woche ein weiteres Defizit, eine weitere Beeinträchtigung, einen weiteren Schaden verkraften müssen. […] Es fängt mit Kleinigkeiten an. Und dann beschleunigt es sich.“

Michèle Seld, die von allen nur Michka genannt wird und die stets ein unabhängiges Leben geführt hat, muss feststellen, dass sie nicht mehr allein leben kann. Neben einigen Stürzen in ihrer Wohnung und zunehmend von Alpträumen geplagt, glaubt sie ständig, wichtige Dinge zu verlieren, ohne sie konkret benennen zu können. Tatsächlich verliert sie nach und nach Wörter, findet die richtigen nicht mehr und ersetzt sie durch ähnlich klingende. Die Diagnose lautet Aphasie: Verlust des Sprechvermögens oder Sprachverstehens infolge einer Erkrankung des Sprachzentrums im Gehirn.

Michka ist kinderlos und ohne Verwandte. Alleine wohnen kann sie nicht mehr und daher ist sie auf die Fürsorge im Pariser Seniorenheim angewiesen. Der alten Frau fällt es jedoch schwer, sich in der neuen Ordnung einzufinden. Trost sucht sie bei der jungen Marie, die sie regelmäßig besucht und ihrem Logopäden Jérôme, dem sie während der gemeinsamen Arbeit ans Herz gewachsen ist. Abwechselnd schildern die beiden aus ihrer Perspektive Michkas Geschichte.

Wir erleben das Schicksal einer alten Dame, der als Lektorin Karriere, Selbstbestimmung und Freiheit stets das Wichtigste waren. Ein Leben in dem sie Orthographie und Syntax anderer verbesserte, doch nun mit den eigenen Wörtern in jedem Satz ringt. In hellen Momenten leidet sie unter dem Verlust ihrer Selbstständigkeit, was Michka jedoch am meisten beschäftigt, ist die bisher vergebliche Suche nach einem Ehepaar, dem sie ihr Leben zu verdanken hat…

Feinfühlig, klarsichtig und scharfsinnig zeigt Delphine de Vigan, was uns am Ende bleibt: Zuneigung, Mitgefühl und Dankbarkeit. Ein wirklich berührender, in sich geschlossener Kurzroman, bei dem kein einziges Wort überflüssig ist. „Dankbarkeiten“ würdigt all diejenigen, die uns zu den Menschen gemacht haben, die wir heute sind!

Ich habe das Lesen wirklich genossen, habe gelacht und geweint. Vielen Dank für diesen wunderschönen Roman, vielen Dank für diese wunderschöne Geschichte!