Brutal zärtlich

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alasca Avatar

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Die alleinlebende Michka ist alt geworden: Bis jetzt kam sie gut zurecht, doch nun bewirkt plötzliche Orientierungslosigkeit, dass sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr allein bleiben kann. Marie, für die sie in deren Kindheit Zuflucht und Omaersatz gewesen ist, findet ein Seniorenheim für sie. Dort erwartet sie „Ein reduziertes, eingeengtes, aber perfekt organisiertes Leben.“

Vom Prolog an behauptet „Dankbarkeiten“, ein Buch über die Dankbarkeit zu sein. Und es stimmt: Wir sagen nicht oft genug danke. Nicht aufrichtig und von Herzen. Michka jedenfalls hat ein letztes Lebensthema: Sie möchte, bevor sie stirbt, dem jungen Paar, das sie im 2. Weltkrieg vor den Nazis gerettet hat, endlich ihre Dankbarkeit ausdrücken. Es entsteht durchaus Spannung über der Frage, ob ihr das gelingen wird. Marie wiederum hat nun, da Michka sie braucht, endlich Gelegenheit, ihr ihre Fürsorge von damals zu entgelten - hier beschreibt die Erzählung eine etwas zu stimmige Schleife. Alle Figuren sind freundlich, verständnisvoll, wohlmeinend und hilfsbereit. Das Ganze eingebettet in milde Melancholie. Das könnte einem durchaus ein bisschen zu viel werden.

Wenn da nicht das eigentliche Thema des Romans wäre: Das langsame Verlöschen einer Person durch den Verlust der Sprache. Was macht einen Menschen aus? Michka, die im Verlagswesen tätig war, gehen rapide die Wörter verloren. Sie ist nicht dement, sie leidet an Aphasie. Im Heim kümmert sich der Logopäde Jerome um sie. Er versucht, den schleichenden Verlust der Sprache zu verlangsamen. Michka versteht durchaus, was mit ihr geschieht, aber in dem Maß, in der ihr die Wörter verloren gehen, verblasst auch ihre Persönlichkeit. Vigan schildert die Tragik dieses Prozesses ohne Drama und sogar mit Humor. Oft habe ich gelächelt, manchmal sogar aufgelacht. Denn wenn Michka ein Wort nicht finden kann, nimmt sie einfach ein anderes und gern eins, das sich reimt. Dabei kommen wunderbare Bedeutungsverschiebungen zustande: „Kleider machen Bräute…“ oder kennen Sie schon den „Sorgenrock“ oder die „Lauerwurst“? Wobei das gleichzeitig so traurig war, dass ich genauso gut hätte weinen mögen.

Damit diese Geschichte überhaupt erzählt werden kann, tun das abwechselnd Marie und Jerome, die sich erst am Schluss begegnen. Beide Perspektiven haben nur kurze, komprimiert erzählende Passagen und sind stark dialogisch geprägt; durch diesen Kunstgriff wird der Sprachverlust Michkas überhaupt erst erfahrbar. Man erfährt dabei einiges über Marie und ihren Hintergrund, aber recht wenig über Jerome, außer, dass er zu großer Empathie fähig ist und den Verlust versteht, den seine Patientin erleidet. Aus Jeromes mitfühlender Sicht verfolgen wir, wie Michka immer weniger wird. Das macht Angst – aber wie schön wäre es, so begleitet zu werden?
Mme de Vigan muss sich öfter vorwerfen lassen, „Trostliteratur“ zu verfassen. Diese hat einen schlechten Ruf (warum eigentlich?). Ich kann durchaus nachvollziehen, wie dieser Vorwurf zustande kommt. Aber mir kam dieser Roman wie ein Blick in die Zukunft vor. Ein Blick mit Weichzeichner vielleicht – und nur dadurch aushaltbar.

„Alt werden heißt verlieren lernen.“ Um diese brutale Wahrheit hat Vigan einen zärtlichen Roman geschrieben.