Dabkbarkeit

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Michka Seld ist alt. Über achtzig, keine Familie, zunehmend hinfällig - das ist meistens gleichbedeutend mit Einsamkeit. Michka hat ihr ganzes Leben eigenverantwortlich gelebt, war Fotoreporterin und Korrektorin bei einer Zeitung. Delphine de Vigan schenkt ihr in ihrem neuen Roman „Dankbarkeiten“ ein Lebensende in Würde und Frieden.

Es ist ein Kammerspiel, das die Autorin hier auf 163 Seiten inszeniert. Ganz am Anfang hat es die Wohnung der alten Dame als Schauplatz. Doch Michka Seld fällt der Alltag immer schwerer. Da ist der körperliche Verfall, aber da ist auch noch diese Angst, die sie immer wieder plötzlich befällt, und die zunehmende Schwierigkeit, sich verständlich zu machen, die richtigen Worte zu finden, Sätze zu bilden. Sie leidet unter beginnender Aphasie, also einem Verlust des infolge einer Erkrankung des Sprachzentrums im Gehirn. Bald ist klar, dass Michka nicht länger allein leben kann.

„Sie zieht ihre Wohnungstür hinter sich ins Schloss, diese Tür, die sie Hunderte Male geschlossen hat, doch heute weiß sie, dass sie es zum letzten Mal tut. Sie besteht darauf, selbst abzuschließen. Sie weiß, dass sie nicht zurückkehren wird. Sie wird all diese Handgriffe nie mehr verrichten, die sie Hunderte Male wiederholt hat, den Fernseher einschalten, den Bettüberwurf glatt streichen, die Bratpfanne spülen, die Rollos wegen der Sonne herunter ziehen, ihren Morgenmantel an den Kleiderhaken im Badezimmer hängen oder auf die Sofakissen klopfen, damit sie wieder eine Form annehmen, die sie längst verloren haben.“

Michka hat keine eigene Familie, das hat sich nicht ergeben. Aber Michka ist nicht allein. Marie, die frühere Nachbarstochter, jetzt um die Dreißig und ungewollt schwanger, kümmert sich um die alte Dame. Mit viel Liebe und Dankbarkeit tut sie das, denn als sie selbst Unterstützung gebraucht hat, als kleines Mädchen, dessen Eltern sich kaum um sie kümmerten, da war Frau Seld immer für sie da. Eine Art Ersatzmutter quasi. Marie ist eine der zwei Ich-Erzähler*innen im Roman.

Die zweite Erzählstimme ist die von Jérôme. Jérôme ist Logopäde im Altersheim, in dem Michka unterkommt. Auch er entwickelt schnell eine große Zuneigung zu der neuen Heimbewohnerin. Ihr Zimmer hier ist der zweite Ort des Kammerspiels. Ihre zunehmende Aphasie das Drama, das sich abspielt. Delphine de Vigan arbeitet mit vielen Buchstaben-, später Wortvertauschungen, auch um die zunehmende Verunsicherung Michkas zu zeigen. Manchmal ist das ein wenig komisch zu lesen, funktioniert dann aber auch in der deutschen Übersetzung recht gut.

„Alt werden heißt verlieren lernen. Heißt jede oder fast jede Woche ein weiteres Defizit, eine weitere Beeinträchtigung, einen weiteren Schaden verkraften müssen.“

In kurzen Kapiteln, mit viel Dialoganteil begleitet Delphine de Vigan die alte Dame und zeigt verschiedene Arten von Dankbarkeiten. Denn neben der Dankbarkeit, die Marie gegenüber Michka empfindet, gibt es noch eine, die sehr viel weiter zurückreicht. Michka Seld ist Jüdin und wurde während des Krieges von ihrer Mutter bei einem jungen Paar versteckt, kurz bevor diese deportiert wurde. Die Mutter kehrte nie zurück, Michka überstand drei Jahre in ihrem Versteck. Nach Ende des Krieges holte sie eine überlebende Tante ab, nie konnte sie sich bei ihren Rettern Nicole und Henri richtig bedanken. Auch ihren Nachnamen kennt sie nicht.

Nun am Ende ihres Lebens plagt die das schlechte Gewissen, ihre Dankbarkeit nicht richtig gezeigt zu haben. sie teilt ihre Geschichte mit Marie und Jérôme.

Auch die Beiden haben ihre eigenen Probleme. Der Vater von Maries Kind will sich nicht kümmern, Jérôme ist mit seinem Vater lang entzweit. Michka hat auch im Alter für beide ein offenes Ohr.

Delphine de Vigan hat mit „Dankbarkeiten“ ein stilles, ein zärtliches Kammerspiel geschrieben, dicht und berührend. Es handelt vom Altern, von Würde, vom Erinnern und Vergessen, dem Dialog zwischen den Generationen und natürlich von Dankbarkeit.

„Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie oft Sie in ihrem Leben wirklich Danke gesagt haben? Ein echtes Danke. Als Ausdruck Ihrer Dankbarkeit, Ihrer Anerkennung, der Schuld, in der Sie stehen.

Wem?“