Dankbarkeit zeigen, bevor gilt, „Die Wörter machen sich vom Racker“

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elke seifried Avatar

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„Ja ich sitze in meinem Sessel. Aber ich kann mich nicht mehr bewegen.“, sagt Michka zu der Dame, die sie anruft, nachdem sie den Notfallknopf gedrückt hat. Wie lange sie schon im Sessel sitzt, weiß sie nicht mehr. Auch wenn sie sich vielleicht doch noch bewegen kann, ist es die Angst, die sie so furchtbar lähmt. „Es geht so schnell, ich spüre fast andauernd, dass ich etwas verliere, aber ich finde es nicht, und … das macht mir Angst.“ Die weitgereiste alte Dame, die Fotoreportagen für Zeitschriften gemacht hat und der als Korrektorin für eine Zeitung nie ein Fehler entging, leidet sehr darunter, dass ihr die Worte zunehmend entschwinden, was furchtbare Alpträume auslöst. >>Habe ich dir erzählt, dass ich im Wohnzimmer hingefallen bin? Ganz blöd mit dem Topf voran.<<, eine weitere Tatsache, dass Michka gemeinsam mit Marie, der jungen Frau, derer sie sich seit deren Kindertagen angenommen hat, und die sich nun um sie kümmert, entscheiden, dass eine Leben allein in der Wohnung nicht mehr möglich ist.

Als Leser lernt man Michka an dem Tag, an dem sie den Notfallknopf drückt, kennen und zieht dann mit ihr wenig später in die Seniorenresidenz. Dort muss man mitverfolgen, dass gilt „Alt werden heißt verlieren lernen. Heißt jede oder fast jede Woche ein weiteres Defizit, eine weitere Beeinträchtigung, einen weiteren Schaden verkraften müssen.“ und dass ihr immer mehr Wörter entfallen, die sie durch andere Begriffe ersetzt. Man macht mit ihr und Logopäde Jérôme Übungen und erfährt so auch ein wenig über ihn. „Zum ersten Mal in meinem Sehen habe ich angefangen, mich um jemanden zu kümmern, ich meine jemanden anderen als mich. Und das ist es was alles ändert, weißt du Marie. Angst um jemanden anderen zu haben, jemand anderen als sich selbst. Du hast da eine große Chance.“ Nach und nach bekommt man auch einen kleinen Einblick in die Beziehung zwischen Michka und Marie, sowie deren momentane Sorgen. „Das ist häufig so, das sage ich Ihnen lieber gleich, dieser spektakuläre Niedergang, der einsetzt, sobald die Heimbewohner hier einziehen“ Immer wieder wird man auch Zeuge von einem der furchtbaren Alpträume, die Michka so plagen. Schon vor ihrem Umzug hat sie Angst vor einem „Durchleuchtungsgespräch“ einer herzlos, rigiden Heimleiterin, deren Rüffel sie sich furchtbar ausmalt. Zentraler Bestandteil des bewegenden Romans ist auch Michkas Suche nach „Nicole und Henri, die ihr Leben riskiert hatten, um meines zu retten.“, denen sie doch so sehr noch danken möchte, solange es noch geht. Warum sie sie gerettet haben, und ob Michka gelingen wird, ihren Dank zu äußern, wird natürlich nicht verraten.

Der einnehmende Schreibstil der Autorin hat mich von der ersten Seite an gefangen genommen und ich konnte das so ans Herz gehende Buch nicht mehr aus der Hand legen, ehe ich am Ende angelangt war. Die Fülle an bewegenden Szenen, die so viel Menschlichkeit, so viel Feingefühl versprühen, die anregen über Danke-Sagen und Dankbarkeit nachzudenken, hat mich völlig in Beschlag genommen. Wie gerne hätte ich die alte Dame doch am liebsten tröstend in den Arm genommen, wenn sie ihre Ängste plagen, ihr die Duftspender in den Toiletten nicht geheuer, sind „Jedes Mal, wenn man reingeht, pfft macht. Ich sag´s dir. Die vergasen uns.“, oder ein „Ich weiß nicht. […] Ich habe Angst ich verspiele mich.“, sie von einer Bridge –Einladung abhält. Ganz oft konnte ich herrlich viel schmunzeln, wenn Michka die Wörter verdreht. „Dieser Kommentator, den ich mag, der mit den sehr heißen Zähen, der immer talerlos aussieht.“, „Wir hatten gerade unseren kleinen Vanillejockel ausgetöffelt, da fingen plötzlich die Tränen an zu heulen … Es war ganz schön laut.“, gelegentlich musste ich auch schwer raten. Tränen statt Sirenen, nicht ganz so einfach, aber mein Gespür für das, was sie sagen will, ist beim Lesen richtig gewachsen. Manchmal war ich extrem hin und hergerissen, soll ich lachen oder weinen, weil ich von der liebenswürdigen alten Dame doch so gar nicht Abschied nehmen wollte. >>Was meine Beischätzung angeht. Eine Vorherbestattung ... ein paar Schnittchen und aus und vorbei.<< >>Meinst eine Feuerbestattung?<< >> Ja genau. Aber die Schnittchen nicht mit Leberpastete, sondern mit Pax.“ Richtig mitgefiebert habe ich auch, ob die Suche von Erfolg gekrönt sein wird.

Michka ist mir von der ersten Seite an ans Herz gewachsen. Sie ist eine so tolle Frau und das bringt die Autorin auch auf den wenigen Seiten ihres eher kurzen Romans auch mehr als gelungen zum Ausdruck. Auch Marie und Jérôme, die eigentlich gar keine großen Auftritte haben, sind so grandios gezeichnet, dass ganz viel Zwischenmenschliches spürbar wird.

Alles in allem völlige Begeisterung und absolute Leseempfehlung. Ausgezeichnete fünf Sterne.