Was bleibt, wenn die Sprache geht?

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"Alt werden heißt verlieren lernen."

An einem Tag im Herbst wird klar: Die alte Dame Michka kann von nun an nicht mehr alleine bleiben. Zu oft ist sie schon gestürzt, zu heftig ist die Angst vor dem Verlust. Denn nach und nach entfallen ihr die Wörter; sie ersetzt sie einfach durch ähnlich klingende. Ihre Ziehtochter Marie und der Logopäde Jérôme stehen an Michkas Seite. Die alte Frau hat aber noch einen letzten Wunsch: Sie will dem Ehepaar, das sie vor so vielen Jahrzehnten selbstlos bei sich aufgenommen hat, endlich ihren Dank aussprechen.

Wieder einmal präsentiert de Vigan mit "Dankbarkeiten" eine abgespeckte, beinahe schon minimalistische Geschichte - in der aber doch alles enthalten ist, was über das Altern, den Verlust, die Liebe und die Dankbarkeit gesagt werden muss. Die Geschichte schwebt irgendwo im zeitlosen Raum, Wochen und Monate verrasen innerhalb weniger Sätze, und man bewegt sich nie aus Michkas Dunstkreis heraus. Marie und Jérôme kommen immer nur von außen, nie begleitet man sie in ihre Welt, in ihr Leben - nur in den kurzen Dialogen mit Michka erfährt man mehr über die beiden jungen Menschen.

Michka verliert nach und nach alle Wörter - sie leidet an einer demenziell begründeten Aphasie. Am Anfang ersetzt sie die Wörter, die ihr entfallen, noch durch ähnlich klingende, oder sie kommt nach längerem Nachdenken doch noch auf das richtige Wort - aber im Verlauf der Krankheit breitet sich die Leere aus und damit das Schweigen. Frei sprechen kann sie nur im Traum, wo sie sich vor einer bösartigen Heimdirektorin rechtfertigen und erklären muss - ein Abschluss mit dem Leben, sozusagen. Es ist traurig, ja sogar tragisch, dabei zusehen zu müssen, wie die Worte unaufhaltsam verloren gehen. Aber es hat wahrscheinlich noch nie jemand so poetisch über diesen Verlust geschrieben wie Delphine de Vigan. Eine Steppenlandschaft, ein tiefer Brunnen, ein versandetes Meer. Und was bleibt überhaupt, wenn die Sprache nicht mehr da ist? Sprache ist Denken, Sprache ist Erinnerung, Sprache ist Kommunikation, Sprache ist Miteinander. "Dankbarkeiten" ist eine Ode an die Sprache - und es zeigt , dass Zuwendung, Zuneigung, Berührung auch im Alter essenziell sind, dass der Faden zwischen den Menschen nicht abreißen darf.

Michkas Wortverdrehungen sind herzallerliebst, sehr witzig, manchmal enthalten sie eine tiefgreifende Wahrheiten, die man ohne die Aphasie umständlich hätte beschreiben müssen. Zum Beispiel als Michka von Maries Schwangerschaft erzählen will, ihr aber partout das Wort "schwanger" nicht einfallen will, da benutzt sie das Wort "Anker": "Marie ist...Anker." Ja, Marie ist Michkas Anker, aber genauso ist Michka Maries Anker, und das Baby verankert Marie im Leben. Ist das nicht wunderschön? Und das ganz ohne Kitsch. An dieser Stelle übrigens ein riesiges Lob an die Übersetzerin, die sich bestimmt an vielen Stellen den Kopf darüber zerbrechen musste, wie sie das französische (Laut-)Bild ins Deutsche transportiert. Es ist wunderbar geglückt.

Ich hätte aufgrund des Titels erwartet, dass es viel mehr um Dankbarkeit geht, aber im Grunde versteht man schon zwischen den Zeilen, wie dankbar sich diese Menschen alle gegenseitig sind. Und dass es Michkas letzter großer Wunsch ist, ihre Dankbarkeit an die Menschen zu übermitteln, die sie zu Zeiten der Nazi-Besatzung versteckt haben, sagt ja auch schon alles. Delphine de Vigan hat ein ebenso trauriges wie herzerwärmendes Buch geschrieben, das auf kleinem Raum alles verbindet, was das Leben lebens- und liebenswert macht. Und das uns zeigt, dass Zuwendung einfach alles ist.