Wenn die Zeit bemessen ist

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Michka verliert nach und nach die Wörter. Sie leidet an Paraphrasie: Im Gespräch fallen ihr die passenden Worte nicht ein, sie ersetzt sie durch ähnliche klingende. Das macht ihr Angst und sie wird von Albträumen gequält. Bald ist der Punkt erreicht, wo sie nicht mehr alleine und selbständig leben kann, sondern in ein Seniorenheim ziehen muss.
Nun sind ihre wichtigsten Kontakte Marie, eine junge Frau, die sie früher versorgt hat und Jerome, ein Logopäde. Beide kümmern sich regelmäßig und liebevoll um Michka. Marie leidet unter dem Verlust ihrer Selbstständigkeit, unter Enge und Monotonie ihres neuen Lebens. Und noch mehr leidet sie darunter, dass sie etwas noch nicht erledigt hat. In ihrer Kindheit wurde ihr Leben von einem jungen Paar gerettet. Sie hat versucht, sie ausfindig zu machen und ihnen ihre Dankbarkeit zu übermitteln, aber das ist ihr bisher nicht gelungen.

Mein Kommentar
Dankbarkeit ist Titel und Thema des Buches. Michka ist einem jungen Paar dankbar, dass sie vor dem möglichen Tod bewahrt hat. Marie ist dankbar, dass Michka sie in einer schwierigen Kindheit durch ihre Fürsorge vor einem möglichen Heimaufenthalt bewahrt hat.

Erzählt wird die Geschichte aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Manche Abschnitt werden von Marie geschildert, manche von Jerome und dann gibt es noch die Albträume von Michka. Der Sprachstil ist schlicht und klar und von Zuneigung zu den Protagonisten geprägt. Auf nur 163 Seiten bringt Delphine de Vegan alles unter, was sie sagen möchte. Es ist schön und auch traurig zugleich.
Außer dem Thema Dankbarkeit ist es auch ein Buch über Alter, Krankheit und Sterben und - auf der positiven Seite über Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Zuneigung.

Was mir nicht gefiel: Es war mir alles etwas zu positiv und bildet nicht die Lebenswirklichkeit alter Menschen ab. In der Realität ist es nicht so, dass alle alten Menschen in Heimen jemanden haben, der sich regelmäßig und mit Zuneigung um sie kümmert. Nicht jeder Pfleger oder Therapeut führt seinen Beruf mit absoluter Hingabe und Einfühlsamkeit aus (bitte nicht als Kritik an dieser Personengruppe verstehen, das hat ja Gründe, wenn in diesen Berufen die Motivation dahingeht). Und es gelingt auch den meisten Menschen nicht, in den letzten Tagen/Stunden noch das zu erledigen, was bisher nicht gelang.

Was mir gut gefiel: Die Erzählweise und die Botschaft. Das Buch gibt viel Anregungen zur eigenen Auseinandersetzung mit den Fragen
- Wer hat meinem Leben Prägungen verliehen, die mich ausmachen?
- Wofür bin ich dankbar, wem bin ich dankbar und zeige ich das genügend?

Eine sehr schöne Textstelle aus meiner Sicht:
"Aber was mich immer noch erstaunt, was mich regelrecht verblüfft und mir - noch heute, nach mehr als zehn Jahren im Beruf - manchmal den Atem raubt, ist die Langlebigkeit von als Kind erlebtem Schmerz. Eine trotz der Jahre brennende, glühende Wunde. Die nicht verschwindet."

Alles in allem: Leseempfehlung.