Ein seltsames Leben

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Als Sohn einer kroatischen Gastarbeiterin kam Alem schon im Alter von ein paar Wochen in die Obhut einer deutschen Pflegefamilie – Eltern Marianne und Robert haben schon sieben eigene Kinder, kümmern sich aber auch noch um einige Gastarbeiterkinder. Mutter Smilja schuftet in einer Fabrik und kann ihrem kleinkriminellen, abwesenden und trinkenden Ehemann Emir nicht vertrauen. Alem gerät schon früh zwischen die Fronten – auf der einen Seite eine fürsorgliche Pflegefamilie, in der er bis zum Abitur aufwachsen sollte und das „achte Kind“ wird, aber mit einem Nationalsozialisten und Holocaust-Leugner als Vater, auf der anderen Seite seine Mutter, die nach dem Verschwinden von Emir mit Dušan einen gewalttätigen Mann in die Wohnung gelassen hat, der Alem bei seinen Familienbesuchen in Frankfurt schlägt. Smilja hat zudem ein Geheimnis, dass sie Alem erst im späten Erwachsenenalter anvertraut: als Schutz vor einem Ganoven, der in der jugoslawischen Gefängnisinsel Goli Otok eingesessen hat, erzählt sie Alem, sein leiblicher Vater Emir sei bei einem Arbeitsunfall gestorben – in Wahrheit hat er bis vor Kurzem noch im Ausland gelebt. Alem, nun selbst Vater eines Sohnes, macht sich auf Spurensuche nach Belgrad, um das Grab seines Vaters aufzusuchen und abzuschließen.

„War nicht gerade nett von dir, mich so im Stich zu lassen. Ich weiß nicht, wie dein Leben verlaufen ist. Kann mir vorstellen, dass es nicht einfach war. Aber eines sage ich dir: meins auch nicht. Ein seltsames Leben hast du mir da eingebrockt. Ein wirklich seltsames Leben.“

Unterteilt in drei „Büchern“ hat mich der autofiktionale Debütroman von Alem Grabovac eindringlich gepackt – atmosphärisch dicht und authentisch entführt die sprachlich klare und szenische Geschichte zurück in Smiljas ärmliche Herkunft in ein kroatisches Bergdorf im Hinterland, in Alems Kindheit und Jugendalter der 70er- und 80er-Jahre, in die Sommerurlaube ins ehemalige Jugoslawien und Italien, aber auch in ein Aufwachsen voller Unsicherheiten, Gewalt, Zerrissenheit, Auflehnung und „den eigenen Weg finden“ mit drei sehr unterschiedlichen Vätern. Alem wandert hin und her durch kulturelle, ethnische und soziologische Unterschiede und erlebt in den 90ern zudem hautnah den Ausbruch des Jugoslawienkrieges.

Einfühlsam und doch nüchtern unaufgeregt schildert Grabovac eine bedrückende, schwierige Kindheit ohne pathetisch oder anklagend zu werden – eine Geschichte, die sich behutsam wie ein Leporello entfaltet und stückchenweise eine Suche nach Herkunft, Identität und Freiheit zwischen verschiedenen Welten freigibt und ein Befreiungsversuch aus familiären Verstrickungen. Zudem wird mit dem Schicksal der Gastarbeiter, der damaligen Migrationspolitik und mit den stillen Nationalsozialistin in guten Positionen auch ein Stück wichtige deutsche Zeitgeschichte aufgerollt. Ein empfehlenswerter und bemerkenswerter Erinnerungsroman, eingebetet in historische Zeitgeschichte!