Vom Trauma der vergehenden Zeit

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leo.leporello Avatar

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Peter Stamm ist ein bewährter Beschwörer: Er schickt seinen Protagonisten auf einen Erinnerungsgang über die Pfade seiner Vergangenheit, zu seiner Jugendliebe Franziska. Dabei fragt er ganz grundsätzlich nach unseren Wahrnehmungsmöglichkeiten und -kapazitäten.
Sein Protagonist, ein zurückgezogener Eigenbrötler, trägt sich schwer am Begreifen, am Erfassen. Er wurde entlassen und gibt eine trostlose Figur ab, wirkt antiquiert, ein wegrationalisiertes Fossil im Internetzeitalter. Er klammert sich durch das Ausschneiden und Sortieren von Zeitungsartikeln an ein letztes, aus seiner Arbeit bekanntes Ordnungsgefüge in seiner Existenz, gibt zu erkennen, ordnungszwangbehaftet zu sein. Er lebt ganz in seinem merkwürdigen Archiv. Und gefühlsabtrünnig, offenbar von Kindesbeinen an. Was findet er dort? Gräbt sich nicht ein mit dem Papier? Gleitet er womöglich in eine Art Wahn ab? Immerhin gibt es Beteuerungen ab, die uns stutzig machen sollten: "Es mag verrückt klingen, aber ich bin nicht verrückt."
Was hat Gültigkeit? Die Kraft des ge-/unterschriebenen Papiers? Oder ist das die reinste irreführende Verzettelung? Trotz dieser grundsätzlichen Fragen wirkt der Text zunächst wie sein Held etwas verloren in unserer Gegenwart, mit der leisen Kulturkritik am Internet und der Volltextsuche. Auch ist Stamms Sprache bisweilen gewohnt etwas papiern, wie sein Sujet. Ich frage mich, ob er dem Ganzen noch etwas Kontur geben wird oder weiter ein kauziges Kopfkino entfaltet. Stamms Protagonist ist ein vom Leben Gezeichneter: nicht durch Erfahrungen, sondern durch die Nicht-Erfahrungen, die Dinge, die nicht passiert sind, Gelegenheiten, die sich nicht ereignet haben. Warum richtet er sich in der Statik der Vergangenheit ein? Welchen inneren Schaden richtet das stete Vergehen der Zeit an? Stamm scheint ein Trauma ergründen zu wollen ...