Landfrust

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tintenteufel Avatar

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Björn Vedder beschäftigt sich in seinem Essay mit dem Befinden auf dem Lande. Nach einer Kindheit auf einem Dorf lebte er lange in München, um schließlich mit seiner Familie an den Ammersee zu ziehen. Nach ein paar Jahren stellt er sich die Frage, wie sich dieser Umzug auf sein Leben und Denken auswirkt. Er schlägt den Bogen von der neu erwachenden Landlust und der damit verbundenen romantisierenden Vorstellung von einer heilen Welt über die engeren sozialen Bindungen und die damit einhergehende größere soziale Kontrolle im Vergleich zur Anonymität der Großstadt und reisst später die Hypothese an, dass sich provinzielle und engstirniges Denken überall finden lässt.

Auf den ersten Seiten macht es Spaß seinen Beobachtungen zu folgen, die er mit literarischen Beispielen und soziologischen Theorien noch weiter ausschmückt. Weil ich selbst die Hälfte meines Lebens in Städten verbracht habe und dann aufs Land gezogen bin, konnte ich viele Erfahrungen bestätigen.

Doch im Verlauf des Buches nimmt die Generalabrechnung mit den Gemeinheiten der länglichen Bevölkerung überhand. Das aktuelle Dorfleben tritt in den Hintergrund und die traumatischen Erfahrungen der Kindheit mit Amts- und Machtmissbrauch nehmen großen Raum ein. Die positiven Seiten des engeren Zusammenlebens auf dem Land werden ebenso vernachlässigt wie die nur angedeutete um sich greifende Provinzialität und Engstirnigkeit in den Städten und der digitalen Welt. Schade, denn dieser Aspekt wäre in einer interessanten Medienkritik gemündet und hätte bestimmt auch Erkenntnisse zu Populismus und aufkeimender Deglobalisierung erbracht.

Insgesamt nimmt der Autor eine relativ selbstgerechte und überhebliche Position ein, so dass es nicht besonders verwundert, dass er nicht im Dorf ankommen konnte, sondern auf deutliche Distanziertheit gestoßen ist. Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang wohl von einer self fulfilling prophecy! Immerhin ist der Autor ehrlich genug, anzuerkennen, dass er sich auch in der Stadt nicht mehr heimisch fühlt, weil diese sich auch weiterentwickelt hat und er selbst älter geworden ist, so dass seine Vorstellung der geliebten Stadt auch nur noch eine verklärte Retrospektive ist. Höchste Zeit, zu erkennen, dass sich nicht nur soziale Gemeinschaften, sondern auch Individuen im Zeitablauf ändern und sich immer neu definieren und einen neuen Ort finden müssen, an dem sie sich heimisch fühlen können!

Daher bliebt ein gemischter Eindruck von diesem Buch: Vieles ist gut beobachtet und in interessante literarische und soziologische Kontexte gesetzt worden, zu Recht auch oft sehr pointiert und polarisierend. Aber letztlich kann sich der Autor nicht von seinen Enttäuschungen lösen, so dass unter dem Strich die Ausgewogenheit beim generalisierenden Großangriff gegen die ungeliebte Lebensform auf der Strecke bleibt.
Schade!